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Theaterkritik: Angst vor der Angst

Verstrickt in die Geschichte - und ins Vergessen: Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee I-V“ unter der Regie von Barbara Wysocka bei der Spielzeit Europa

Heiner Müller läuft im Loop: „Wir lagen zwischen Moskau und Berlin / Im Rücken einen Wald ein Fluß vor Augen / Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau“. Es sind die ersten Sätze der „Wolokolamsker Chaussee“, die junge Regisseurin Barbara Wysocka legt sie zu Beginn in die Zeitschleife. In ihrer Heimat, wo sie Müllers fünfteiliges Geschichtspuzzle am Breslauer Teatr Polski als Erstaufführung inszeniert hat, schafft diese Verortung natürlich einen besonderen Resonanzraum. Über das Oder- und Weichselland geht Müller zwar hinweg, während er der Spur der Panzer von den russischen Wäldern des Jahres 1941 bis in die Frühlingsverschattung der DDR anno 1968 folgt.

Aber die Variationen über die Geburt der sozialistischen Gesellschaft und ihre Wehen bieten noch in der Gegenwart genügend Andockpunkte auch für die Geschichte Polens. Bezüge, die Wysocka anklingen lässt, ohne sie betonen zu müssen. Die Kunst ihrer Müller-Lesart besteht darin, dass sie über Ost und West hinausweist – und die titelgebende Via dolorosa als universellen Pfad begreift. Jeder ist verstrickt in die Geschichte.

Ihre Inszenierung der „Wolokolamsker Chaussee I-V“, die im Rahmen der Spielzeit Europa mit deutscher Übertitelung in Berlin gastierte, schafft zunächst mal einen klug-konzentrierten Sprachraum: fünf Schreibtische realsozialistischer Anmutung sind über die Bühne verteilt, drei Spieler – Adam Cywka, Rafal Kronenberger und Adam Szczyszczaj – teilen sich die Müller’schen Monologstücke. Im ersten Teil, inspiriert von Alexander Beks Roman „Wolokolamsker Chaussee“, gibt einer den sowjetischen Offizier im Ruhestand, der Rückschau hält auf die Tage der wankenden Moral seines Bataillons: „Ich war ihr Kommandeur und meine Angst war / die Angst vor ihrer Angst“. Vorn sitzt als Alter ego der junge Befehlshaber, der einen mutmaßlichen Deserteur mit selbstzerschossener Hand exekutieren lässt, was ihn nie loslassen wird. Gemeinschaftliche Erinnerung als lebendiger Prozess – da wird aus der Textfläche ohne viel Aufwand drängendes Theater.

Über die mächtige Videowand im Hintergrund flirren dazu Bilder einer Autofahrt über verschneite Straßen. Stets in Großaufnahme: der schwarze Rückspiegel. Ein blindes Fenster in die Vergangenheit. Was unmittelbar Bezug auf Müllers Selbstbeschreibung seiner „Proletarischen Tragödie im Zeitalter der Konterrevolution“ nimmt, überhaupt sind die Videos (Lea Mattausch) nie nur Illustration, sondern öffnen stets eine neue Ebene. Wie auch im zweiten Teil, der von der Degradierung eines Militärarztes erzählt. Fast surreal wirkende Bilder von der Häutung eines Wals gehen über in Szenen aus einer russischen „Wolokolamsker Chaussee“-Verfilmung – Soldatenköpfe mit aufgerissenen Augen.

Barbara Wysocka, Jahrgang 1978, hat sich nicht nur in Polen längst einen Namen als intelligente Durchdringerin deutschsprachiger Literatur gemacht. Sehr präsent etwa ist noch ihre furiose Bearbeitung von Peter Handkes Sprechfolterstück „Kaspar“, die im Hebbel am Ufer gastierte. Schlicht staunenswert, wie scheinbar mühelos sie sich nun auch die Müller’schen Dialektikverse heranzieht und glasklar hörbar, verstehbar macht: das von Anna Seghers inspirierte Duell zwischen einem Direktor und seinem Stellvertreter, begleitet vom Kettenrasseln des 17. Juni 1953. Die kafkaeske Bürokratieparabel, die vom Verwachsen eines Polizeioffiziers mit seinem Schreibtisch erzählt: „Ein Möbelmensch oder ein Menschenmöbel“. Das Kleist’sche Drama schließlich, das zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 aufzieht: Ein Vater, der hier als Faktotum im roten Trabi auf der Bühne sitzt, hat den eigenen Adoptivsohn denunziert. Das Müller’sche Leitmotiv dieses letzten Teils – „Vergessen und vergessen und vergessen“ –, das Wysocka von einem Basslauf untermalen lässt, wird noch lange nachhallen.

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