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Kultur: Theaterkritik - ein Verriß

Theaterleute hassen Theaterkritiker.Das ist ein unfairer, weil asymmetrischer Haß: Man kann ein fabelhafter Schauspieler, ein großer Regisseur sein und dabei die Theaterkritik hassen.

Theaterleute hassen Theaterkritiker.Das ist ein unfairer, weil asymmetrischer Haß: Man kann ein fabelhafter Schauspieler, ein großer Regisseur sein und dabei die Theaterkritik hassen.Aber man kann nicht einmal ein anständiger mittlerer Theaterkritiker sein und dabei das Theater hassen.(...)

Theaterkritik ist, wie jede unerwiderte Liebe, eine bestenfalls tragische, schlimmstenfalls grotesk-komische Betätigung.Unerwiderte Liebe: Das Leben läßt aus ihr, als gnädige Ausnahme, manchmal Freundschaft, sogar Aufopferung wachsen.Die große Dramenliteratur dagegen, ob Tragödie oder Komödie, besteht unerbittlich auf der Regel - auf Rache, die zermalmen will, was sich einem nicht willig zuneigt.

Der deutsche Theaterkritiker von heute möchte seine Rachgier aus unerwiderter Liebe gern mit der Erhabenheit von Racines Phädra schmücken, doch sie ähnelt eher dem Elend von Molières Arnolphe.Verschlissen von Beruf und Leben, schwankt dessen Gefühl für das Junge, Neue zwischen Geilheit und Disziplinierung.Begierde und Neid spalten, verkrüppeln sein Verhältnis zu dem, was zukunftskräftig kreativ ist.Mir scheint der Zustand der deutschen Theaterkritik im Augenblick miserabel.Ich versuche das mit drei imaginären Porträts zu illustrieren.

Erstens: Man stelle sich einen prominenten Feuilletonisten vor, Mitglied aller Jurys im Fach, dem fast vierzig Jahre Schreibmühsale nur einen gefühlsleeren Kopf, ein totes Herz übriggelassen haben - während sein unaufhaltsamer PC immer noch abrupt wechselnde bald linke, bald rechte Dogmen ausspuckt, Belehrungen oder Verketzerungen der Künstler.Gegen den großen Gewalttäter wie gegen den großen Ästheten unter den Regisseuren verteidigt er das Abendland - das er vor dreißig Jahren als kapitalistischen Schwindel brandmarkte.

Zweitens: Man denke sich einen anderen, stil- und witzsicheren Großschreiber, bei dem jede Pointe von der Genugtuung strotzt, wieder einmal die Überlegenheit des einsamen Kritiker-Anklägers über sämtliche Künstler-Verbrecher bewiesen zu haben.Von dem, was sich an Leben und Begabung neu regt, hat er sich abgeschnitten.In seiner Verlassenheit des Urteilens, Verdammens kommt er sich wohl als ein aktueller, das heißt konterrevolutionärer Robespierre vor.

Drittens: Man denke sich schließlich einen, der weder Ideologie noch Witz, nur Ehrgeiz hat.Im Schrecken über sein Mittelmaß jagt er panisch von Verrissen zu Entdeckungen, von Entdeckungen zu Verrissen, um seine Stumpfheit im Zuschauen, seine Dumpfheit im Schreiben hinter Ressentiment und Willkür zu verstecken.Bald ruft er einen glatten Playboy, bald einen anarchischen Clown zur Hoffnung des deutschen Theaters aus, bald läßt er sie fallen.Da auf seine Tagesschreibe keiner mehr achtet, tritt er in selbstveranstalteten Podiumsdiskussionen auf, in denen er Werbung für die schon dritte Sammlung seiner Artikelchen in Buchform treibt.

Die Lebende Leiche, der Witzbold als Würger, der Rezensent aus Ressentiment sind, wie gesagt, gänzlich fiktive Figuren.Aber könnten nicht ihresgleichen bei unseren führenden Tageszeitungen Karriere machen?

Von der Fiktion nun zur Realität.Den sicherlich größten und den wahrscheinlich aufgeklärt couragiertesten deutschen Theaterkritiker haben ihre eigenen Zeitungen vertrieben: Benjamin Henrichs aus der "Zeit", Günther Rühle aus dem Tagesspiegel.Wir Leser und Theaterleute versuchen daher, uns an ein halbes Dutzend Jüngere (das heißt hierzulande, Mitte Dreißig bis Mitte Vierzig) zu halten, die noch hinschauen wollen und leidlich schreiben können.Aber eine wirklich junge, mit Theatersinn und Formulierungsglanz gesegnete Begabung (endlich einer, sagten wir uns, zum Sehen geboren, zum Schreiben bestellt) hat unlängst die Flucht aus dem tragisch-grotesken Beruf ergriffen: Er will Dramatiker und um keinen Preis mehr Kritiker sein.Ein ehrenhafter Entschluß, aber leider ein exemplarischer.

Es ist kein Wunder, wenn die besten Theaterleute heute, aus drei Generationen, mehr als je der Kritik mißtrauen - ja, mit aller Kraft versuchen, ihre Ideen und Arbeiten an der Kritik vorbei, ja gegen die Kritik durchzusetzen.

Und dennoch: Über ein Wunder, ein Doppelwunder muß ich Ihnen hier berichten.Vor vier Jahren schlug ich der Abteilung Darstellende Kunst der hiesigen Akademie der Künste vor, Henning Rischbieter zum Mitglied zu wählen.In diese Abteilung wurden seit ihrer Neugründung nach dem Krieg Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, ausnahmsweise zwei Dramaturgen gewählt - niemals auch nur ein einziger Kritiker.Trotzdem pochte gegen meinen Vorschlag keiner der Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, Dramaturgen auf diese geheiligte Tradition.Sondern sie fragten sich und mich erstaunt: Ist Henning Rischbieter noch kein Mitglied der Akademie? Man wählte ihn mit der höchsten Stimmenzahl in geheimer Wahl.

Heute wohnen wir der Wiederholung dieses Wunders bei.Nach George Tabori, Peter Stein, Bernhard Minetti, Peter Palitzsch, Jutta Lampe, Pina Bausch, Claus Peymann, Luc Bondy wählte eine Jury, deren Mehrheit aus Theaterleuten besteht, Henning Rischbieter zum Träger des Theaterpreises Berlin.Also keinen Theatermann, sondern einen Theaterkritiker? Man würde die Wahl damit mißverstehen.Henning Rischbieter gehört nicht nur, zu unserem Glück, zur deutschen Theaterkritik - sondern, durch eine unvergleichliche Lebensarbeit, zum deutschen Theater.Wunder sollte man annehmen, nicht zergliedern: Rischbieter wird von keinen Theaterleuten gehaßt, außer vielleicht von ein paar eitel schmollenden Dummköpfen.

Diese mirakulöse Sonderstellung hat er nicht durch Liebedienerei, sondern durch tätigen Anstand und Mut und Kunstverstand erworben.Von Zadek und Minks über Stein und Herrmann, Bondy und Wonder bis zu Castorf und Neumann, Marthaler und Viebrock: kein Unverzichtbarer im Theater heute hätte es ohne Rischbieter und sein "Theater heute" geschafft.Sogar dieses Spiegelzelt gäbe es ohne ihn nicht - ohne das Berliner Theatertreffen, das er erfunden hat.Ich weiß mich mit ungezählten Künstlern des deutschen Theaters einig, wenn ich ihm für all das danke - und ihn zum Berliner Theaterpreis von Herzen beglückwünsche.

IVAN NAGEL

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