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Das Hebbel am Nilufer. Intendant Matthias Lilienthal leitet das HAU seit neun Jahren. Nach dieser Saison hört er auf. Er gehört im Theater zu den Global Players, ein Pharao im T-Shirt.

© Schaper

Theatertreffen 2012: Matthias Lilienthal: Der Mann an der Spitze

Lust auf Wechsel: Matthias Lilienthal leitet das Berliner HAU, es ist seine letzte Saison. Er ist einer der Sieger des Theatertreffens. Ein Gespräch über Politik und Paradigmen.

Matthias Lilienthal, zu dieser Jahreszeit hat man Sie in der Vergangenheit meist schimpfend angetroffen, weil das HAU nicht zum Theatertreffen eingeladen war. Das sieht in diesem Jahr anders aus.

(Mit gespielter Empörung): Ich habe nie geschimpft, das ist eine Lüge!

Okay, neuer Versuch. Herr Lilienthal, neben der dreifach eingeladenen Volksbühne ist das HAU der große Gewinner des diesjährigen Theatertreffens. Sie sind mit den Koproduktionen „Before Your Very Eyes“ von Gob Squad und „Hate Radio“ von Milo Rau vertreten, die freie Szene erobert das Festival. Woran liegt das?

Das müsst ihr Journalisten doch besser wissen als ich.

Uns würde Ihre Theorie interessieren.

Das Theatertreffen hat zwei größere Bewegungen erlebt. Zum einen die Umstellung des Kartenbestellwesens aufs Internet im vergangenen Jahr, wodurch die Hälfte des Publikums ausgetauscht wurde. Und die neue Leitung (mit Festspiele-Intendant Thomas Oberender und Theatertreffen-Chefin Yvonne Büdenhölzer, Red.) bringt eine prinzipielle Offenheit gegenüber Formaten mit, die nicht aus dem Stadttheater stammen.

Wieso hätte eine Arbeit wie die von Gob Squad, als Beispiel, nicht am Stadttheater entstehen können?

Das Produktionshaus Campo in Gent hat die Inszenierung mit Gob Squad zwei Jahre lang vorbereitet. Da gibt es erste Probenphasen, Showings, Kritik, und dann wird noch mal zwei Monate lang gearbeitet. Es ist ein kontinuierlicher Prozess und ein Beispiel für langfristige Arbeit im freien Theaterbetrieb. Außerdem ist das Arbeiten mit Kindern und anderen Laien an einem Stadttheater, das ein festes Schauspielerensemble beschäftigt, natürlich immer etwas problematisch ...

Matthias von Hartz, der bei den Berliner Festspielen den Spielzeit-Europa-Nachfolger „Foreign Affairs“ leiten wird, hat die These aufgestellt, die freie Szene sei für 90 Prozent der Innovationen im deutschen Theater verantwortlich. Hat er Recht?

Der Satz war ein sehr geschickter Coup, obwohl er vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht. Die Nullerjahre im Theater waren in meinen Augen wesentlich von drei Regie-Positionen geprägt, Stefan Pucher, Nicolas Stemann und Rimini Protokoll. Wenn man Rimini Protokoll zum Großteil der freien Szene zurechnet, käme ihr ein Drittel der Bedeutung zu. Was dann erfreulicherweise durch zwei Einladungen zum Theatertreffen abgebildet würde.

Eine Gruppe wie Rimini Protokoll steht mit ihrem Dokumentartheater für politische Kunst im weiteren Sinne. Vielleicht haben sich ja gar nicht so sehr die Inhalte verändert, sondern eher die Präsentationsformen?

Da bin ich anderer Meinung. Der vielleicht schönste Moment in der Arbeit mit Rimini Protokoll war die Hauptversammlung von Daimler, zu der sie 200 Zuschauer als Aktionäre mit je einer Aktie eingeschmuggelt hatten. Ein Aktionär begann plötzlich zu schreien: „Zetsche, du Lügner, du bist für die Waffenlobby“. Und alle 1200 Versammelten im Haupt- und Nebensaal dachten, das sind jetzt die Bösen von Rimini Protokoll. Es war aber ein ganz gewöhnlicher Aktionär, der eine Stunde lang den mächtigsten Menschen unseres Landes demütigte. Der konnte nichts dagegen unternehmen, weil er auf dem Höhepunkt der Finanzkrise keine Bilder von eingreifender Security für die Tagesschau produzieren wollte. Der Blick von Rimini Protokoll dechiffrierte vollständig diese Veranstaltung und die Rituale unseres Kapitalismus.

Und was passiert, wenn dieser ganz andere Blick nun auf die herkömmlichen Strukturen trifft?

Das Spektrum an Ästhetiken wird einfach breiter, gleichberechtigter, und eine Theatertreffen-Jury setzt sich der Mühe aus, auch in der freien Szene ein paar Sachen zu sehen. Das passiert. Aber das war ja schon im vergangenen Jahr der Fall, als Nurkan Erpulats „Verrücktes Blut“ und „Testament“ von She She Pop eingeladen wurden. Und in den Neunzigern war ein Andrej Woron mit seinem Teatr Kreatur zu Gast. Hier ereignen sich ja keine Revolutionen über Nacht.

Gleichzeitig wird das Festival von Ihnen und anderen gerne mal heftig kritisiert oder auch für überflüssig erklärt.

Das Theatertreffen ist ja ursprünglich erfunden worden, um eine Westanbindung zu schaffen, weil Theater wegen der Mauer nicht nach Berlin kam. Dann wurde es eine nationale Plattform, die für die Arbeit von Intendanten am Stadttheater große Bedeutung gewann, als Barometer für Anerkennung. Im Stadttheaterwesen ist das Theatertreffen die Frankfurter Börse.

Und wie profitiert das HAU vom Kursanstieg?

Grundsätzlich hilft diese Anerkennung auf kulturpolitischer Ebene schon viel. Und wir merken es auch am Publikumszuspruch, seit Beginn des Jahres ist am HAU alles ausverkauft. Aber die eingeladenen Arbeiten sind ja Koproduktionen, das darf man nicht vergessen. Einer von euch hat geschrieben, das eigentliche Ereignis dieses Jahrgangs sei die Wiederauferstehung der Volksbühne. Wir hatten am HAU immer den Vorteil, in Ruhe aus der dritten Reihe spielen zu können. Wenn etwas Gutes entsteht, freue ich mich, wenn die Welt hinschaut. Und zwischendrin bin ich auch mal froh, wenn sie nicht guckt.

Klingt nach Meistertrainer Jürgen Klopp: mit Understatement die Trophäen einsammeln.

Vielleicht ist’s der Jürgen Klopp in mir! (lacht)

Wie lässt sich das Theatertreffen reformieren?

Vielleicht haben Sie dann auch eine Idee, wie sich das Theatertreffen reformieren ließe. Ein Problem ist, dass mit den Inszenierungen aus der freien Szene kaum die großen Säle zu füllen sind. Die Formate sind oft für 80 bis 120 Zuschauer angelegt.

Die spannenderen Arbeiten finden im Moment einfach in diesen kleineren und mittleren Räumen statt. Und in der internationalen Szene steht nicht genug Geld zur Verfügung, um wirklich große Produktionen zu stemmen. Vielleicht stellt sich über das Festival aber auch eine Wichtigkeit her, die hilft, die Produktionsmöglichkeiten zu verbessern. Insofern sehe ich eher den Beginn einer neuen ästhetischen Welle, nicht den Verfall von Möglichkeiten.

Als klassisches Schauspieltreffen wird sich das Festival nicht mehr lange halten können.

Das weiß ich nicht. Wenn man das Profil als Bestentreffen aufgäbe, verschwämme ja auch die Grenze gegenüber den vielen anderen Festivals. Ich meine einfach eine Öffnung gegenüber neuen Formaten. Die Stadttheater sind ja ein Reflex der Fürstentümer, ein Ersatz für eine deutsche Nation hundert Jahre vor ihrer Gründung. Und jetzt öffnen sich die Fürstentümer eben via Theatertreffen. Auch der Kunstbetrieb in Berlin hat sich demokratisiert, durch die Fördermöglichkeiten, die eine Kulturstiftung des Bundes oder ein Hauptstadtkulturfonds bieten. Da gibt es einen Ideenwettbewerb und nicht mehr die Situation: Die Staatsoper kann sich alles leisten, das HAU nichts.

Sie sehen sich nicht in Konkurrenz zu den Großen?

Ganz ehrlich: Ich empfinde weder im Hinblick auf die Finanzen noch auf das Publikum eine Konkurrenz. Wenn ein Daniel Barenboim seine zehn Millionen Euro Aufstockung nicht bekommt, werden die Mittel ja nicht an die freie Szene verteilt. Den Vorschlag der Grünen, ein Prozent des Etats der Großen umzuverteilen, oder die Idee der Piraten, die Deutsche Oper dichtzumachen, finde ich totalen Quatsch. Die freie Szene sollte mehr Knete kriegen, das HAU sollte anständig ausgestattet werden, und ein Theater wie das Grips ist unterfinanziert. Aber ich kämpfe nicht gegen andere kulturelle Institutionen und ihre Finanzierung, das wäre perverser Blödsinn. Und wenn ich sehe, dass 20 Prozent der Documenta-Künstler bereits am HAU gearbeitet haben, verschwimmen die Grenzen sowieso.

Die Unterfinanzierung der freien Szene tragen Sie aber mit. Ein Vorwurf lautet, das HAU sei im Grunde ein neoliberales Modell: kaum feste Jobs, und Künstler, die für ihre Gagen selbst verantwortlich sind.

Das Hebbel am Ufer ist ein neoliberales Modell, rein strukturell gesehen. Ich liebe diese Vokabel nicht besonders. Aber die Realität ist ja, dass 70.000 Euro beim Hauptstadtkulturfonds beantragt werden, bewilligt bekommt man nur 50.000. Und dann entscheidet eine Gruppe, die Produktion trotzdem zu machen, was sich dann eben auf die Gagen auswirkt. Die Gagen in der freien Szene sind ein hartes soziales Problem, ganz klar. Aber für mich war es erstmal wichtig, der Szene eine Bedeutung zu geben, bevor man Lobbyarbeit betreiben und andere finanzielle Wünsche äußern kann.

Es gibt eine gesellschaftliche Strömung, die Geld für Kultur überhaupt infrage stellt.

Die kam ja in erster Linie durch dieses „Kulturinfarkt“-Buch auf, hinter dem der Bertelsmann-Thinktank steht. Und durch die Debatte über die Kulturkürzungen in Holland. Ich hatte aber immer das Gefühl, dass es nach der Schließung des Schiller-Theaters in Berlin Konsens war, nicht in diese Richtung zu denken. Und das Verdienst von Klaus Wowereit und André Schmitz ist ja, dass sie im kulturellen Bereich immer wieder vorsichtig aufgestockt haben. Dass 90 Prozent der Bevölkerung das Geld trotzdem lieber in Krankenhäuser, Spielplätze oder Fußballvereine stecken würde, war schon immer so. Und ist es jetzt.

Das HAU war ja nie nur ein Theater, sondern stets auch Seismograf seines sozialen Umfelds. Wo sehen Sie im Moment die Reibungsflächen in der Stadt?

Das große Thema ist natürlich die soziale Situation, die sich aus den rasant steigenden Mieten ergibt. Dass die Lage angespannter wird, merken wir selbst konkret an der Kasse, zum Beispiel, wenn Leute für ihr Leben gern die Peaches-Show sehen würden, aber sich die etwas teureren Tickets einfach nicht leisten können. Und was auch eine große Rolle spielt: Berlin wird ab dem 3. Juni eine andere Art von Globalisierung erleben, weil die Stadt dann direkt an den internationalen Flugverkehr angeschlossen ist. Die Internationalisierung, die Berlin schon erlebt hat, gewinnt eine neue Dimension, und daraus ergibt sich eine Unmenge an Themen.

Als Momentaufnahme: Welches Bild vom Theater in dieser Stadt vermitteln die zwei Einladungen für das HAU und die drei für Ihre vormalige Wirkungsstätte, die Volksbühne?

Das absolut zutreffende Bild, dass wesentliche Impulse für das deutschsprachige Theater von Berlin ausgehen. Das Bild einer modernen, aufgeschlossenen Stadt, in der jenseits konventioneller Produktionsweisen Theaterdiskurse angeschoben werden.

Jetzt klingen Sie aber nach Kultursenator.

Kultursenator will ich nicht werden, ich will mich ja nicht verschlechtern! (lacht)

Ein paar Ideen für die Stadt hätten Sie bestimmt.

Berlin hätte es bitter nötig, über kulturelle Institutionen der Zukunft nachzudenken. Der Stadt ist zehn Jahre lang aufgrund der Mietsituation und der Stiftungen vieles in den Schoß gefallen. Aber die soziale Basis davon wird in den nächsten Jahren unweigerlich wegbrechen. Da fände ich es sinnvoll, neue Räume zu schaffen, die sich nicht mehr klar den einzelnen Kunstgenres zuordnen lassen. Ich würde ja den Hangar in Tempelhof vorschlagen, da könnte man so ein Performance-Zentrum mit zwölf Räumen hinsetzen.

Klingt reizvoll. Aber wenn Sie im Sommer nach neun Jahren die Leitung des HAU abgeben, haben Sie andere Pläne – außerhalb Berlins, wie man hört.

Ich bin froh, dass die Stadt Berlin mal ein bisschen Pause von mir kriegt. Ich hatte Angebote aus Australien, Südkorea und Beirut – und habe mich für letzteres entschieden. Dort werde ich fünfzehn Postgraduate-Studenten der Bildenden Kunst unterrichten. Wir haben am HAU den Austausch mit der Szene in Ägypten und im Libanon sehr gepflegt, das ist für mich eine Chance, aus der Nähe zu sehen, wie sich diese Umwälzungen der arabischen Revolution auswirken. Und da es zu der Zeit, als ich studiert habe, mit Auslandssemestern noch nicht weit her war, hole ich das auf diesem Weg auch noch nach.

Und was haben die Studenten von Ihnen zu erwarten?

Mit denen werde ich an meinem Format „X-Wohnungen“ arbeiten. Für mich spielen die Grenzen zwischen Film, Theater, Performance und bildender Kunst immer weniger eine Rolle. Das ist eine super Gelegenheit, zu schauen, inwieweit mir da Studenten der Bildenden Kunst in meinem Dilettantismus folgen.

Das Gespräch führten Rüdiger Schaper und Patrick Wildermann.

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