zum Hauptinhalt
"Die Kontrakte des Kaufmanns" von Elfriede Jelinek.

© David Baltzer

Theatertreffen: Die da oben sind die da unten

Harte Auswahl, klare Ansage: Das Berliner Theatertreffen stürzt sich in die Wirtschaftskrise. Die Bühnen können davon profitieren.

Seltsames geschieht auf deutschsprachigen Bühnen. Man trägt Elend zur Schau. Die da oben sind die da unten. Arbeitslose, Verarmte, Pleitegeier, Ausgebrannte und Verzweifelte spielen die Hauptrolle, die Schauspieler sind Opferdarsteller einer Gesellschaft, die der Regisseur Johan Simons ein Raubtiersystem nennt.

Am heutigen Freitagabend eröffnet Simons das Berliner Theatertreffen mit seiner Inszenierung von Horváths „Kasimir und Karoline“. In den kommenden zwei Wochen wird man sehen, wie sich die Schatten der Krisen der 1920er und 2010er Jahre überlagern. Das Theatertreffen erscheint ungewohnt zeitgenössisch, das ist einmal eine klare Ansage. Bürgerliche Befindlichkeiten stehen eher nicht zu Debatte – sofern es nicht um „Liebe und Geld“ geht wie bei Dennis Kelly und das Bürgerliche im Schuldenloch verschwindet. Kein Shakespeare, kein Tschechow, nichts Antikes diesmal. Krise ohne Katharsis. Schulden ohne Sühne.

So will es die Jury, so hat sie es in den Schauspielhäusern landauf, landab erlebt, in Stücken von Elfriede Jelinek, Christoph Marthaler, Roland Schimmelpfennig: Der Chefdramaturg heißt, wie man es auch dreht und wendet, Karl Marx. Ökonomie und Empirie. Die Theater beobachten, analysieren, errichten einen großen Zoo mit Menschen zweiter Klasse. Angestellte und frei schaffende Künstler spielen Arbeitslose, das ist das heutige Paradox des Schauspielers .

„Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen“, Karin Beiers Kölner Inszenierung nach dem Film von Ettore Scola gibt das Motto vor. Die Bühnen sondieren Unterschichten, sie wollen hinschauen, wie in der Münchner Adaption des Hans-Fallada-Romans „Kleiner Mann – was nun?“ Kleine Leute, großes Fragezeichen. Lösungen, klassenkämpferische Parolen gar werden nicht geboten. Wenn die Einschätzung der Jury zutrifft, haben wir es mit hyperrealen Turbo-Sozialstudien zu tun.

Nun holt das Theater rasend nach, was ihm jahrelang angeblich abging – gesellschaftspolitische Legitimation. Der Umbruch ist da, die Zeit der großen ästhetischen Gegenentwürfe vorüber. Schleef, Müller, Gosch scheinen endgültig beerdigt, auch wenn der Verlust noch immer schmerzt. Castorf hat sich aufgerieben, Gotscheff ist nicht dabei. Wir erleben mit der diesjährigen Auswahl auch das Ende der Vorherrschaft des Theaters, das aus dem Osten kam und seine Kraft aus dem archaischen Element einer sozialistisch durchsetzten Klassik bezog. Die neuen Stücke kämpfen mit neuen Göttern, mit der quecksilbrigen Energie der Medien, mit dem Medusenhaupt eines Kapitalismus, der allein sich selbst zum Feind hat.

Schneller, unsicherer, volatiler ist diese neue Theaterwährung. Und kleiner. In Berlin ist die Entwicklung von der harten Theater-Mark zum international kompatiblen Festival-Euro signifikant. Nur mit einer einzigen Inszenierung darf die Hauptstadt beim Theatertreffen jetzt dabei sein, mit Dea Lohers „Dieben“ vom Deutschen Theater, und dieses Deutsche Theater hat in der ersten Spielzeit des neuen Intendanten Ulrich Khuon noch nicht richtig Tritt gefasst.

Viele Produktionen, eine gewisse Hektik, wenig Nachhaltiges. Solide, aber auch oft an der Oberfläche verhuscht. In früheren Jahren führte Khuon mit dem Thalia Theater die Liste der Theatertreffen-Einladungen an, die Hamburger waren Stammgäste beim Berliner Mai. Die Ernüchterung, die da jetzt aus einer sich freilich ständig verändernden Berliner Perspektive eingetreten ist, hängt mit dem Wesen des Theatertreffens zusammen. Es holt Spitzeninszenierungen aus lokalen Zusammenhängen nach Berlin, und wenn dann aber, wie bei Khuon, ein halbes Hamburger Haus in die Hauptstadt umzieht, sieht die Sache anders aus.

Das Theatertreffen ist eine Durchreise, eine Zuspitzung. So hat es sich seit bald einem halben Jahrhundert bewährt. Was interessiert es hier, wenn in NordrheinWestfalen Theater vom Exitus bedroht sind? Vor Jahrzehnten war einmal eine Produktion aus Moers nominiert. In der Regel bleiben die Kleinen außen vor. Die Auswahl spiegelt eine Zweiklassengesellschaft der Bühnen. Hamburg, München, Berlin und, überraschend in diesem Jahr, Köln gehören dazu. Oberhausen nie. Die einen fahren nach Berlin, andere gehen unter.

Theater überhöht den Alltag, das Theatertreffen verdichtet den Theateralltag. Nie zuvor sah sich das Berliner Treffen einer solchen Konkurrenz ausgesetzt, selbst in der eigenen Stadt. Das Deutsche Theater veranstaltete unlängst mit großem Erfolg die Autorentheatertage, zehn Tage ausschließlich mit eingeladenen Produktionen neuer dramatischer Texte. Bei den Mülheimer Theatertagen im Mai tauchen Jelineks „Die Kontrakte des Kaufmanns“, Dea Lohers Berliner „Diebe“ und Schimmelpfennigs „Der goldene Drache“ ebenfalls wieder auf, dazu Stücke, die wiederum bei den Autorentheatertagen in Berlin zu sehen waren.

Solche festivaltechnischen Fragen werden am Ende unwichtig, wenn das zeitgenössische Theater sich auf seinen vielfältigen Foren nicht nur lauthals bemerkbar macht, sondern auch seine Formen findet und seine Sprache. Denn was für den implodierenden Kapitalismus gilt, kehrt auf dem Theater wieder. Es lebt in den Zentren noch immer einigermaßen gut und sicher von staatlichen Zuwendungen, auf dass die Intendanten und Regisseure munter gegen das System spekulieren können.

Auch die Theater haben sich wahnsinnigen Wachstumsraten verschrieben und produzieren immer schneller und mehr. Auch die Theaterleute, nicht nur die Zuschauer, kennen das Gefühl der Leere, dieses Getriebensein, weil der Augenblick kaum mehr zählt, nicht festgehalten werden kann. Die Flüchtigkeit des Theaters verflüchtigt sich. Dieses Jahr soll es anders sein. Das Rauschen im inneren Ohr des Theaters steigt derart an, dass etwas Seltenes geschehen könnte: Das Theater findet sich wieder, es trifft sich selbst.

Das liegt in der unverwüstlichen Natur der Sache. 1988, zum 25. Jahrgang, sprach Rolf Michaelis vom Berliner Theatertreffen als einer „politischen Tat“. Er erinnerte an eine Düsseldorfer „Medea“ zur Geburtsstunde des Treffens und an einen Satz des Euripides, der diesem Festival mit Werkstattcharakter eingeschrieben bleibt: „Aufwärts fließen die Ströme zu den Quellen.“

Zur Startseite