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Theatertreffen: Gespenster der Gegenwart

Mit den Münchner Kammerspielen und Luc Percevals szenischer Adaption von Hans Falladas "Kleiner Mann – was nun?" hat das Berliner Theatertreffen nach dem flauen Start jetzt wirklich begonnen.

Ein am Ende gefeiertes Ensemble und eines langen Abends Reise in die Nacht der sozialen Depression im Deutschland, im Berlin der Weltwirtschaftskrise (um 1930). Doch nichts da vom gepflegten Trübsinn der im Kulturbetrieb oft selbstgefälligen Sozialanklagen. Vielmehr eine spielerische Beglaubigung des Diktums von Heinrich Böll, dass die Kunst im Angesicht der menschlichen Tragödien wohl untröstlich sei. Aber nie trostlos.

Die Geschichte vom jungen Johannes Pinneberg und seiner schwangeren Freundin Emma, genannt Lämmchen. Trotz allen ehrlichen Strebens wird Pinneberg zweimal schuld- und schutzlos entlassen, er ist der fallende Kleinbürger, weniger proletarisch als sein Schicksalsbruder Franz Biberkopf in Döblins „Berlin Alexanderplatz“; doch ist’s von bittrer Komik, wenn sein tapferes Lämmchen davon spricht, demnächst die Kommunisten zu wählen – und ihr Mann meint: „Noch geht es uns zu gut dafür.“

Auch das wird sich ändern: bis bald gar keine Wahl mehr bleibt. So weit, so fern? Der politische Rahmen ist heute ein anderer. Doch was aus Falladas 1932 erschienenem Roman über die Arbeitswelt beispielsweise in einem Kaufhaus zu erfahren ist, in dem externe Rationalisierungsberater für internen „Quotendruck“ sorgen (so heißt es hier, wenn ein Verkäufer gezwungen ist, den 20-fachen Umsatz seiner Lohnsumme als Rendite zu liefern), das klingt plötzlich turbokapitalistisch aktuell. Und wirkt in der Münchner Aufführung gespenstisch präsent.

Wie ein riesiges Tabernakel hat die Bühnenbildnerin Annete Kurz mitten auf die Szene eine raumhohes „Orchestrion“ gestellt, dessen Instrumenten- und Maschinenräderwerk in vielen wunderlichen Varianten die „Symphonie der Großstadt“ entströmt, während aus dem gleichnamigen Berlin-Film von 1927 im Hintergrund die stummen Bilder laufen. Und im Vordergrund die lebenden Bilder der Schauspieler, die allesamt fabelhaft die Schwebe halten zwischen grellem Witz und tragischer Verzweiflung, zwischen Totentanz und Lebenskampf. Mit dem Mut auch zum sanften Melodram.

Denn das ist in Luc Percevals bester Inszenierung seit seinem legendären elfstündigen Shakespeare-„Schlachten!“ die wahre Kunst: Man spielt (nach ein paar anfänglichen epischen Längen) ohne den doppelten Boden der gängigen Ironie und verzichtet auf jeden cool abfedernden Zynismus. Dafür bezahlen die neun Schauspieler bar und wunderbar. Gundi Ellert etwa als Pinnebergs Ludermutter ist ohne jede körperliche Schonung eine tolle Rampenschlampe mit dem maskenhaften Nachtlidschattenantlitz der einstigen 20er-Jahre-Sündendiva Anita Berben – und zugleich eine tief rührende, weil würdelos alternde Dame. Wolfgang Pregler, André Jung, Hans Kremer, Stefan Merki und Peter Brombacher liefern in wechselnden Rollen ein Panoptikum der postwilhelminischen Diener und Herren, todtraurig, saukomisch, und gibt Pregler einen kleinen Nazischläger, dann bleibt selbst er ohne jeden hakenkreuzenden Fingerzeig ein prekär Verhauener.

Vor knapp 40 Jahren hatten bereits Peter Zadek und Tankred Dorst diesen Fallada für die Bochumer Bühne entdeckt. Sie hatten das Sozialdrama noch mit Songs und Showtreppe im Katzengold der Roaring Twenties glänzen lassen. Der Münchner Lichtkünstler Max Keller taucht nun für Percevals puristischere Version die Dämmerung der Weimarer Republik ins Helldunkel eines raffinierten Zwielichts. Aus ihm leuchten auch die Hauptdarsteller hervor: Annette Paulmann als Lämmchen beweist in der Wolfsgesellschaft eine zarte, zähe Überlebensklugheit, und Paul Herwigs Pinneberg ist eine Überraschung: Ob mit Mutter, Frau oder den Verhältnissen kämpfend, verkörpert er das Drama des betagten Kinds. So alt wie jung, so vergangen wie künftig.

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