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Kultur: Thierse und Anti-Thierse

FERNSEHZIMMER KURT SCHEEL amüsiert sich pflichtbewusst zu Tode Vor einer Woche habe ich ein Premiere-Abo bestellt. Ich könnte jetzt versuchen, mich rauszureden: Es sei nach Mitternacht und ich (ein bisschen) betrunken gewesen, so genannte Freunde hätten mich heiß gemacht und angefeuert („Ey Allda, du bringst es voll!

FERNSEHZIMMER

KURT SCHEEL amüsiert sich pflichtbewusst zu Tode

Vor einer Woche habe ich ein Premiere-Abo bestellt. Ich könnte jetzt versuchen, mich rauszureden: Es sei nach Mitternacht und ich (ein bisschen) betrunken gewesen, so genannte Freunde hätten mich heiß gemacht und angefeuert („Ey Allda, du bringst es voll!“), und dann hätten wir eben übers Internet die Bestellung aufgegeben. Alles richtig. Aber der wahre Grund für diese (verhängnisvolle?) Tat lautet schlicht und ergreifend: Ich habe es für Sie, meine lieben Leserinnen und Leser, getan.

Es ist ein weiterer Versuch, dieses mein Fernsehzimmer nicht nur gemütlich und reinlich, sondern auch auf dem neuesten medientechnischen und -theoretischen Stand zu halten. Denn beides, Software und Hardware, geht ja Hand in Hand: DVD-Receiver und Luhmann, zwei (!) Videorecorder und Adorno/Horkheimer, nun also Abo-Fernsehen (ohne Porno-Kanal, ich schwöre!) zwischen Bolz und Thierse. Und Sie denken, ich tue mir das freiwillig an oder weil es mir „Spaß“ macht: ich, Inhaber des Großen Latinums und Verehrer Fischer von Erlachs! Nein, meine Herrschaften, es ist ein Opfergang, in den unvergesslichen Worten Noskes: Einer muss den Bluthund machen. Und so begebe ich mich quasi in Ihrem Auftrag in die Hölle der Fernsehwelt, der Gefahr nicht achtend, aber die Hoffnung hegend, dem einen oder anderen Bürger draußen im Lande ein Stück weit Aufklärung zu geben und die Möglichkeit, dem Medienterror zu entkommen, ja ihm ein Antidot entgegenzusetzen.

Große Worte? Aber hat sich nicht Bundestagspräsident Thierse erst kürzlich in seiner Rede „Der Zwang zur Unterhaltung und der Ernst der Politik“ auf dem Mainzer Medien Disput (was für ein angeberischer Name) besorgt gezeigt, „dass vor lauter Unterhaltungsanspruch die Medien nicht mehr sorgfältig berichten, die Wirklichkeit nicht mehr abbilden“ und somit die Demokratie gefährden? Und befinden wir uns nicht wieder auf einem Weg, „auf dem schon 1848 und 1933 alle demokratischen Hoffnungen und individuellen Freiheiten geopfert worden waren“?

Hat er, hat er. Und wer jetzt meint, das sei das normale kulturkritisch-apokalyptische Schwadronieren, sozusagen der sonntägliche Kirchgang der Mediengesellschaft, auf dass sie ansonsten um so fröhlicher weitersündigen könne, macht es sich ein bisschen zu leicht. Denn Thierse hat ja Recht mit seiner Warnung vor dem immer „totalitärer werdenden Unterhaltungszwang“, vor der „Diktatur der Unterhaltung“ (dann schon lieber des Proletariats ...)!

Meine Thierse, Quatsch: These lautet: Wir amüsieren uns zu Tode. In Deutschland nicht seit 1848, 1933 oder 1943 (Stalingrad), aber seit 1985. Da erschien hier nämlich ein Buch gleichen Titels von dem amerikanischen Medienwissenschaftler Neil Postman. Und hat seine Hiobspost etwas genützt? Mitnichten, im Gegenteil, denn ganz offensichtlich haben die tumben Deutschen seine Warnung als Befehl missverstanden, und in ihrem typischen Kadavergehorsam haben sie dann erst recht wie verrückt das kommerzielle Fernsehen geguckt und schließlich die Spaßgesellschaft gegründet – ein tragisches Missverständnis, an dem nun unsere süße kleine Demokratie zu zerschellen droht!

Aber vielleicht sehen Thierse und ich zu schwarz. Denn hatte Postman nicht vor seiner Fernsehverteufelung den Bestseller „Das Verschwinden der Kindheit“ veröffentlicht? Hatte er, hatte er. Und das ist ja erkennbar Unfug. Es dürfte schwer fallen, empirisch zu zeigen, dass die Kindheit in den letzten 30 Jahren verschwunden ist. Wie es übrigens auch schwer fällt, für die These, wir amüsierten uns zu Tode, empirische Belege zu liefern. Wobei das Postmansche „Wir“ genial ist, denn es bedeutet ja eigentlich „Ihr“: Ihr Doofköppe amüsiert euch zu Tode – wogegen wir (Sie und ich) kaum etwas haben könnten, wenn nicht „Ihr“ die vielen, die Massen wären, die in einer Demokratie nun leider einmal allzu viel Einfluss haben: als Wähler und als Konsumenten.

Postman jedenfalls, der kürzlich an Lungenkrebs gestorben ist, hätte besser ein Buch mit dem Titel „Wir rauchen uns zu Tode“ schreiben sollen, darin hätte er massenhaft empirische Belege anführen können. Aber es wäre wohl kein Bestseller geworden: Wir Raucher wissen das, und die Medienkritiker vom Schlage Thierse, von denen es Millionen gibt, wollen nichts wissen. Je weniger sie wissen, um so entfesselter können sie über die Medien im Allgemeinen und das Fernsehen im Besonderen räsonieren.

Von Premiere übrigens habe ich bisher noch nichts gehört. Ob die alle Bestellungen, die zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens eingehen, als Trunkenheitsdelikte aussortieren? Ich halte Sie auf dem Laufenden.

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