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Der Schriftsteller Thomas Melle, 39.

© Karsten Thielker

Thomas Melles brillanter Roman "3000 Euro": Die Träume des Flaschensammlers

Brutales Gegenwartsmärchen: Thomas Melles brillant wütender, für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman „3000 Euro“.

Eine Zeit lang hat Anton Meldungen gesammelt über Menschen, die er „Verschwinder“ genannt hat; Berichte über einen Mann beispielsweise, der sich auf einen Hochsitz im Wald gesetzt hat und verhungert ist. Im Grunde genommen ist aber auch Anton selbst ein Verschwinder, jedenfalls dann, wenn man an ihn das Maß der sogenannten Normalität anlegt. Unter dem Wahrnehmungsradar des nach den Gesetzen des Funktionierens organisierten Alltags läuft Anton spielend durch. Leute wie ihn bemerkt man, wenn sie im Müll nach Flaschen wühlen oder vor Supermärkten und Banken um ein paar Cent betteln. Oder man sieht zur Karikatur verzerrte Laiendarsteller einer Anton-Existenz im Mittagsprogramm der Trash-Privatsender.

Der Berliner Schriftsteller Thomas Melle aber, der schon mit seinem 2011 veröffentlichten Romanvorgänger „Sickster“ ganz fest zugepackt hat und ein beängstigendes, pathologisches Stück Lebenswirklichkeit hervorgezerrt hat, betrachtet fernab aller Klischees zwei Menschen, die es herausgeschleudert hat aus dem System, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Und Thomas Melle blickt aus der Sicht von da draußen nach drinnen, auf uns alle, die wir hilflos oder auch bösartig operieren mit Begriffen wie „Unterschicht“ oder „Hartzer“.

Anton ist der eine, Denise ist die andere. Denise sitzt an der Supermarktkasse (eigentlich wollte sie einmal Grundschullehrerin werden), schwitzt viel, sieht aber auf billige Weise gut aus, hat sich gerade einen Undercut schneiden lassen, zieht ihre Tochter alleine groß; der Vater kommt regelmäßig vorbei, holt das Kind für zwei Tage ab und lässt ein bisschen Speed da. Um ihr Gehalt aufzubessern, spielt Denise in Pornofilmen mit; auf das erste Honorar wartet sie noch immer: 3000 Euro.

3000 Euro - das ist die Scheidewand

3000 Euro. Das ist die Scheidewand. Das ist der Betrag, der auch Anton trennt von einer Welt, zu der er früher selbst einmal gehört hat. Etwas ist mit ihm passiert. Ein wildes, zerfasertes, zersplittertes Jahr voller Höhenflüge und Abstürze hat gereicht, um ihn rauszukicken. Seine Erinnerung ist weg; Drogen, Partys, Rauschzustände, verlorene Mobilfunktelefone, überzogene Konten, faule Kreditkarten. Anton war Jurastudent; die anderen haben die Kurve gekriegt; jetzt hat er Schulden, 3000 Euro plus ein Verfahren vor der Brust; die Schulden werden sich häufen, immerhin hat er einen Anwalt, sonst aber auch nichts. Wer raus ist aus dem kapitalistischen Kreislauf von Einnahmen und Ausgaben, das wird ganz deutlich, der bleibt auch draußen. Wenn man stinkt und im Obdachlosenheim lebt und einen gewissen Ruf hat, bekommt man nicht nur keine zweite Chance, man hat erst gar keine.

Thomas Melle dreht die Perspektiven um, und diese Verschiebung der Blickachsen erweist sich in seinem dann auch schlicht „3000 Euro“ betitelten Roman als äußerst erhellend, sie legt soziale Schichten frei, Rituale, Dünkelhaftigkeit. Anton, der zu Ausbrüchen neigt, wird sein Platz zugewiesen. Wenn er den verlassen will, heißt es, er neige zu Ausbrüchen. Ein Kreislauf, aus dem es keinen Weg mehr heraus gibt. Wenn Anton auftaucht in dem Bemühen, ein Stück seines alten Lebens zurückzuholen, hat man entweder einen anderen wichtigen Termin oder holt gleich die Polizei.

Buchcover von "3000 Euro".
Buchcover von "3000 Euro".

© Verlag

Thomas Melle überträgt gesellschaftliche Zumutungen ins Individuelle

Das Großartige an diesem ohnehin brillanten Buch ist allerdings das Verhältnis der Erzählstimme zu ihren Figuren: Thomas Melle schreibt mit kalter Wut; er überträgt gesellschaftliche Zumutungen ins Individuelle; er hält die Demütigungen fest, dieses ständige Begutachtetwerden, die körperlichen Erniedrigungen, die Kälte, mit der Sexualität abgespult wird, die Blicke von Psychiatern und Passanten, aber auch, im Fall von Denise, von Supermarktkunden, jeder ein potenzieller Pornokonsument, der sie wiedererkennen könnte. Ein hochaggressives, geradezu brutales Buch also, das mit Verachtung auf die verlogene Reibungslosigkeit bürgerlicher Konsenswelten blickt, sich aber im Gegenzug kein Selbstmitleid und keine Larmoyanz gestattet. Und das sich bei alldem ein hohes Maß an Empathie für seine beiden maroden Protagonisten bewahrt, ohne den Sozialkitsch auch nur zu streifen.

Thomas Melle führt seine Figuren nicht vor. Er missbraucht sie nicht als Platzhalter. Denise und Anton sind ausgeformte Charaktere – und sie sind trotzdem auch Symptome. Ihre Wege kreuzen sich im Supermarkt. Der Flaschensammler und die Kassiererin. Es entwickelt sich etwas zwischen ihnen. Beide träumen viel und heftig. Anton steht in den Straßen und singt seine Geschichte heraus, um Geld zu verdienen. Seine Gerichtsverhandlung steht an. Denise hat das Geld, kurz durchzuckt es sie, ihm zu helfen. Aber selbst den romantischen Gedanken, die Unterprivilegierten könnten sich in Solidarität üben, wischt Melle vom Tisch. Da ist einfach gar nichts mehr.

Ein Happyend gibt's nur im Traum

Manchmal guckt Anton auf Youtube alte Sendungen der Harald-Schmidt-Show, aus der Zeit zwischen den Jahren 2001 und 2003, „eigentlich lebt er, kulturell gesehen, noch immer in dieser Zeit“, damals ging es ihm gut. Was heute wird, mit ihm und Denise, werden wir nicht erfahren; ein glückliches Ende gibt es allenfalls im Traum.

Kaum mehr als 200 Seiten hat dieser wütende Roman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht und es verdient hätte, auch in die engere Auswahl für den Buchpreis zu kommen. Diese Seitenzahl ist keinesfalls zu wenig. Wer will sich als Leser auch schon über eine längere Strecke permanent ins Gesicht schlagen lassen?

Thomas Melle: 3000 Euro. Roman. Rowohlt Berlin, Berlin 2014. 204 Seiten, 18,95 €.

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