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Schreibt um sein Leben. Der Berliner Schriftsteller Thomas Melle.

© Dagmar Morath/Verlag

Thomas Melles Roman "Die Welt im Rücken": Alles ist verdreht

Noch ein Krankenbericht? Unbedingt: Thomas Melles manisch-depressiver Bildungsroman „Die Welt im Rücken“.

Man ist skeptisch vor der Lektüre dieses Buches: Muss das jetzt sein, schon wieder ein Krankenbericht? Nicht von jemandem, der sonst keine Bücher schreibt und nun womöglich aus therapeutischen Gründen. Sondern von einem Schriftsteller, der eigentlich genug Möglichkeiten hat, das eigene Leid zu abstrahieren, es in Fiktionen zu überführen. Wer den 1974 in Bonn geborenen Autor Thomas Melle kennt, selbst nur entfernt, und im Literatur- und Kulturbetrieb sind das einige, weiß, dass er unter einer bipolaren Störung leidet. Will heißen: Er schlägt sich mit einer manisch-depressiven Erkrankung herum. Wer allein seine Bücher kennt, die Romane „3000 Euro“ und „Sickster“ sowie den Erzählband „Raumforderung“, erinnert sich, dass psychische Deformationen, der Wahnsinn schlechthin darin eine nicht ganz kleine Rolle spielen.

Außerdem: Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit einem manisch-depressiven Leiden gibt es einige, ohne dass sie davon in Form eines Krankenberichts Rechenschaft ablegen oder das gezielt nach außen tragen mussten. Man denke beispielsweise an David Foster Wallace oder den Schweizer Hermann Burger (die beide den Kampf gegen die Krankheit bitter verloren haben). Und nicht zuletzt ist diese Erkrankung, auch wenn es immer wieder so geschrieben wird, schon seit einigen Jahren kein Tabu mehr, das es zu brechen gilt.

Thomas Melle steht wieder auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis

Doch schon mit dem Prolog seines Buches demonstriert Thomas Melle, dass er mit „Die Welt im Rücken“ nicht nur einen bloßen Krankenbericht geschrieben hat, sondern dass mehr mitschwingt. Dass sich hier wirklich etwas erzählen lässt, auch im literarischen Sinn, im Sinn einer poetologischen Authentizität. Was Melle mit diesem Buch abermals eine Nominierung auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis eingebracht hat.

Der Prolog setzt ein mit dem Verlust seiner Bibliothek, die er in den manischen Phasen verkauft hat, geht über in eine Schilderung von Sex mit Madonna und Abstürzen mit anderen Popstars, von Melle imaginiert, wenn er manisch ist. Er schließt mit einer Analyse des Begriffs Bipolarität, der für ihn etwas Technisches hat, was „den wahren katastrophalen Gehalt des Begriffs abdämpft und ins Aktenkundige rubriziert: das Desaster als verbraucherfreundlicher terminus technicus. Das Wort ist so lasch, dass manche noch immer nicht wissen, was es eigentlich bedeutet.“

Es geht Melle um Wahrhaftigkeit, um Konkretion

Was es bedeutet, manisch-depressiv zu sein, davon erzählt Melle dann in drei großen Kapiteln und einem kleinen Schlusskapitel nahe an der Gegenwart. Die drei großen orientieren sich an den Zeiträumen, in denen die zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahre dauernden Krankheitsphasen erstmals auftauchten, 1999, 2006, 2010. Erstaunlich ist, mit was für einer Klarheit und Präzision Melle im Nachhinein die Manie und die bei ihm unweigerlich folgende Depression sprachlich fasst. Wie er es versteht, sich selbst als ein anderer zu beschreiben, seine beiden Persönlichkeiten als Maniker und als Depressiver.

Zwischendrin betont er, ihm gehe es vor allem „um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion“, „um mein Leben, meine Krankheit in Reinform“. Ja, dass es mit seinen „Doppel- und Wiedergängern“ in den Büchern „Sickster“ und „Raumforderung“ ein Ende haben müsse, er sich nicht andauernd „im eigenen Sud“ bewegen wolle. „Von daher ist dieses Buch auch ein Versuch, mich von diesem ewigen Wiedergängertum freizuschreiben. (...). Wenn ich nicht wirklich versuche, meine Geschichte einzusammeln, sie zurückzuholen, die Stimme in eigener Sache unverstellt zu erheben, bleibe ich, auch und gerade im Leben, ein Zombie, ein Wiedergänger meiner selbst, genau wie meine Figuren.“

"Wieder etwas, gegen das ich anschreiben kann", heißt es in Melles Roman

Schreibt um sein Leben. Der Berliner Schriftsteller Thomas Melle.
Schreibt um sein Leben. Der Berliner Schriftsteller Thomas Melle.

© Dagmar Morath/Verlag

Die Motivation, über die eigene Krankheit zu schreiben, ist eine doppelläufige. Sie hat schon explizit therapeutischen Charakter. Melle versucht, die Literatur aus sich heraus- und das Leben wieder in sich hineinzutreiben, auch um den Preis, vor aller Welt nun als Manisch-Depressiver dazustehen, von ihm kommentiert mit den Worten: „Umso besser: wieder etwas, gegen das ich anschreiben kann.“ Es geht viel um Scham in diesem Buch, aber das gesamte Projekt hat auch etwas von einer Schamüberwindung, denn was ist so eine Veröffentlichung sonst? Letztlich lässt sich „Die Welt im Rücken“ auch als Bildungsroman lesen – Thomas Melle nennt ihn lieber einen „Anti-Bildungsroman, eine Art negative Kulturgeschichte“.

Viel ist die Rede von seiner Herkunft aus ungeordneten, kleinbürgerlichen Verhältnissen mit einem schlagenden Stiefvater und einer ihn mal vernachlässigenden, mal verhätschelnden Mutter, „auf knapp vierzig kohlebeheizten Quadratmetern im Asozialenviertel“. Von seinem Weg raus aus der Enge und rein in die Welt der Literatur, der Kultur mit Pop, Film und Theater, des „Breitbandlernens“, erst in Tübingen, kurzzeitig in Austin, Texas, von 1997 an in Berlin. Schließlich betritt Melle als Aktiver die Kulturbühne. Nachdem er einen unveröffentlichten Roman geschrieben hat, folgen veröffentlichte Erzählungen, Übersetzungen und Theaterstücke, ein Auftritt beim Klagenfurter Bachmann-Lesen, Nominierungen für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse und den Berliner Stückemarkt, später Buchpreis-Nominierungen für „Sickster“ (Longlist) und „3000 Euro“ (Shortlist).

Thomas Melle erläutert auch die Folgen der Krankheit für sein Schreiben

Nur wird dieser Entwicklungsroman dreimal richtiggehend durchlöchert und zerfetzt von den Krankheitsphasen. Melle landet lange Monate in der Psychiatrie, erläutert biochemische Prozesse, die Medikationen bis in die Gegenwart und ihre Folgen, erzählt von einem Selbstmordversuch. Aber auch, wie sich das Leiden auf seinen Freundeskreis und die Umgebung auswirkt, inklusive Zerwürfnisse mit der Suhrkamp-Verlegerin oder Störungen von Rainald-Goetz-Auftritten.

Und immer wieder beschreibt er die konkreten Vorgänge in ihm, was die Manie mit ihm macht, die Depression, findet er neue Formulierungen für diese Zustände: „Alle Sprache, und was wäre nicht Sprache, ist verdreht und haltlos, die Zeichen sind aus ihren Verankerungen gerissen.“ Oder: „Die ganze Welt war weg. (...) Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung, so allumfassend sie um sich griff, geschah im Stillen.“

Die Depression: eine ständige Demütigung

Anders als gern mal gesagt wird über Maniker, von wegen der Steigerung von Stimmung, Antrieb, Selbstwertgefühl, Sexualverhalten etc., empfindet Melle die Manie nicht ansatzweise als Glück, auch nicht als Gnade, weil sie die Erinnerung auslöscht. Denn sie hat bei ihm psychotische Anteile, geht mit Wahnstörungen einher. Und dann die Depression, „keine Fühllosigkeit, wie ich dachte, sondern eine ständige Demütigung, ein scharfer, steter Schmerz, eine Haltlosigkeit und Trauer.“

Man meint, bisweilen selbst durch alle Höhen und Tiefen des Autors mitzugehen – so nahe geht die Lektüre, bei aller reflektierenden Distanz Melles, so wuchtig ist dieses Buch. Am Ende bekommt es beschwörenden Charakter, da ist von der Hoffnung die Rede, nie wieder manisch zu werden, in jedem Fall: nie aufgeben zu wollen. Aber eine Gewähr, das weiß Thomas Melle viel zu gut, gibt es dafür nicht.

Thomas MelleDie Welt im Rücken. Rowohlt Berlin, Berlin 2016. 352 Seiten, 19,95 €

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