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Tilman Allert beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit allerlei kleinen Dingen, unter anderem der Choreografie von Pina Bausch.

© Foto: Marius Becker/dpa/picture-alliance

Tilman Allerts „Gruß aus der Küche“: Nachdenken über die kleinen Dinge

Magna Minima: In der Kolumne „Flugschriften“ geht es diesmal um die klugen Beobachtungen des Soziologen Tilman Allert.

Von Caroline Fetscher

Tilman Allerts Allerlei hat es in sich. Etwa in seinen Betrachtungen zum Schminken, dem Färben von Lippen, Wangen, Augenrändern. „Tagein tagaus begeben wir uns auf die Bühne – sei es in rührendem Dilettantismus eigenständig, sei es in Obhut einer professionellen Begleitung, Kosmetikerin genannt.“ Von hier führt der Weg zur Frage nach dem anthropologischen Geheimnis von Gesicht und Spiegel, Camouflage und Maske. Wie verhält es sich mit der Identität und der „Gestaltungsautonomie des Einzelnen“, mit Nähe und Distanz in ambivalenter Spannung?

Geschminkte Lippen „versehen die Person mit dem Versprechen intimer Kontaktaufnahme, das einzulösen hingegen nicht ernsthaft angesonnen oder erwartet wird“. Weiter wandert der an Überraschungen reiche Essay zu Rasierwasser, Tattoos und Piercings und generell zur Körperpflege, auch im Alter, samt ihrer „Tendenz zur Selbstsakralisierung“.

Großes Echo fand der Frankfurter Soziologe mit seinen Textsammlungen „Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge“ und „Der Mund ist aufgegangen. Vom Geschmack der Kindheit“. Jetzt schickt Tilman Allert als ebenso packende Fortsetzung einen Nachfolgeband hinterher (Gruß aus der Küche. Soziologie der kleinen Dinge, S. Fischer Verlag, 284 Seiten, 24 €).

Aufforderung zum Mitdenken

Unerschöpflich scheint das Reservoir des Autors an Anschauungsobjekten, und, anders als die Titel suggerieren mögen, es ist keineswegs beschränkt auf Kulinarisches, Ästhetisches, Hedonistisches. Allerts Anliegen mit den „kleinen Dingen“ ist ein großes: Er will die Soziologie unter die Leute bringen, sie dem Publikum ans Herz legen, seinen Verstand herausfordern zum Mitdenken. Dazu wurde er der Allesanalytiker, der er ist, dem etwas zutiefst Produktives und Paradoxes gelingt: das Verzaubertsein vom Entzaubern. Auf den Spuren von Georg Simmel, Roland Barthes’ „Mythen des Alltags“ oder Adornos „Minima Moralia“ betrachtet Allert übersehene Auffälligkeiten. Selbstverständliches lockert sich durch seine Schilderungen zum Rätsel, weckt Zweifel und steuert mit neuen Fragen auf Erklärungen zu, auf Erhellungen.

Allerts Interesse an Mikrosphären reicht von Modestilen über sprachliche Marotten und Essgewohnheiten bis hin zu Musikvereinen, zur Dynamik von Klassentreffen und der Typologie der Beraterposen von Experten, von dunklen Brillengestellen zum zerfaserten Schlitz am Knie der Bluejeans. Der Soziologe widmet sich der Choreografie von Pina Bausch, dem Design von Jil Sander oder der Frage nach dem Woher des aus dem Gelände des Vagen in die Alltagssprache eingewanderten Wortes „genau“, mit dem unter anderem Studierende ihre Verlegenheit beim Referat bemänteln.

Im Mikrokosmos dieser Vignetten spiegelt sich, überall, der politische und soziale Makrokosmos. Dabei scheut Allert auch vor schwererwiegenden Themen nicht zurück, und geht etwa der Frage nach, was die mobile „Siedlerkultur“ der Vereinigten Staaten, angetrieben etwa von Kreditkäufen und der Konfrontation mit Naturkatastrophen, mit der kollektiven Produktion ihres aktuellen Präsidenten verbindet. Oder aber Allert fragt, ob religiöses „Offenbarungswissen“ in den Hörsaal gehört, wie es nun auch mit dem Fach Islamische Theologie seit ein paar Jahren geschieht. An der Frankfurter Goethe-Universität bietet Allert im Wintersemester 2017/2018 ein Seminar mit dem Titel „Max Weber und der Islam“ an.

Kluge Sprache, zärtliche Ironie

Bei Lehrveranstaltungen konnte er seit nun sechs Jahren die sich in Etappen lösende Abwehr junger Leute muslimischer Herkunft dabei beobachten, wie viele von ihnen nach Indifferenz und Obstruktion zur Reflexion fanden und damit begannen, sich wissenschaftlich mit Entstehungszusammenhängen auch religiöser Schriften zu befassen, „den Zweifel zu methodisieren“.

Wohltuend ist nicht nur die bewegliche, undogmatische Gelehrtheit der Essays, sondern auch die in Korrespondenz zum Inhalt bis in feinste Fasern kluge Sprache mit ihrer fast zärtlichen, nie bloßstellenden Ironie. Ex negativo entlarvt der taktvolle Verzicht auf Sarkasmen jede auf sie rekurrierende Art der akademischen oder anderen Denunziation. Ein Rat zum Schluss: Am besten gleich zwei Exemplare besorgen. Denn wenn man seins gelesen hat, will man es behalten und mindestens ein weiteres unbedingt verschenken.

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