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Kultur: Tipi

In den guten alten Zeiten, als das Wünschen noch half und der Bildungsbürger staatstragende Hochkultur und Unterhaltung rund um die Gürtellinie zu unterscheiden vermochte, hieß Berlins Entertainment-Meile In den Zelten. Eine Vergnügungsstraße, die vom Schiffbauerdamm aus so lockend durch den Tiergarten führte, dass es die Hardcore-Zecher im Morgengrauen bis vor die Marmorstatuen am Großen Stern verschlagen konnte; aus solchen Orgien soll das "bis in die Puppen feiern" entstanden sein.

In den guten alten Zeiten, als das Wünschen noch half und der Bildungsbürger staatstragende Hochkultur und Unterhaltung rund um die Gürtellinie zu unterscheiden vermochte, hieß Berlins Entertainment-Meile In den Zelten. Eine Vergnügungsstraße, die vom Schiffbauerdamm aus so lockend durch den Tiergarten führte, dass es die Hardcore-Zecher im Morgengrauen bis vor die Marmorstatuen am Großen Stern verschlagen konnte; aus solchen Orgien soll das "bis in die Puppen feiern" entstanden sein. Soviel zur Vorkriegs-Spaß- und zur Nachkriegsspaßgesellschaft, die sich In den Zelten später - neben der schönen Schwangeren Auster - ein Tempodrom-Zelt spendierte, für Multikulti-Konzerte. Vor Jahren hat dieses Tempodrom leider der Sicherheitslogistik des emporwachsenden Kanzleramtes weichen müssen (und ist jüngst als neuschwansteiniges Beton-Wigwam in Kreuzberg "wieder"-eröffnet worden). Um so überraschender erreicht uns jetzt die Nachricht, dass Berlins bundesweit bekanntes Unterhaltungs-Spiegelzelt, die Bar jeder Vernunft (BjV) in Wilmersdorf, zur Feier ihres zehnjährigen Bestehens auf eben diesem prominenten Tempodrom-Platz ein 550-Personen-Tipi errichten wird. Zwischen Schloss Bellevue und Haus der Kulturen der Welt einerseits und Kanzleramt (auf berlinisch: "Waschmaschine") samt Reichstag andererseits. Ein Tipi? Uff! (denkt der Karl-May-Leser).

Ein Tipi ist ein Indianerzelt; außerdem erinnert der Name an ein Berliner Stadtmagazin, das dem Millionen-Projekt Tipi als Sponsor unter die Arme greifen will: was die Unabhängigkeit beider Seiten ebenso so wenig tangieren soll wie die Silbenüberschneidung des anderen Tipi-Sponsors, Holsten-Bier, mit dem BjV-Geschäftsführer Holger Klotzbach. Die BjV ist nun mal mit ihren vielseitigen Satire-, Chanson- und Cabaret-Programmen zu einer Erfolgsadresse im Neuen Berlin geworden. Da versprechen Sponsoren sich einen Image-Transfer; auch den PR-Strategen des Kanzlers dürfte der Marketing-Gedanke an eine nachbarliche Zugewinngemeinschaft gefallen. Dem Volks-Schröder, der sich mit Dichterbesuchen schmückt und Planspiele für den Neubau einer zeitgenössischen Oper vis-à-vis angeblich befürwortet, steht ein Revuepalast im Vorgarten dufte an. Das BjV-Team freilich wird demonstrieren müssen, wie es seine eingeübte Grätsche zwischen Mainstream-Sicherheit und kreativem Risiko in einen Hofnarren-Salto verwandelt. Der Spielplan für das Jubiläumsjahr lässt erwarten, dass die wenigen riskanten oder gar avantgardistischen Eigenproduktionen künftig in der Intimität des kleineren Mutterhauses stattfinden, während die sichere Bank eingekaufter Shows im Tipi dominiert, am Ufer der Spree; nur für neun Monate, wie auf der Pressekonferenz verkündet wurde? Zum Fahrenden Volk gehören, im Wahljahr erst recht, auch Politiker. Häuptling Große Waschmaschine lässt ganz gern auf dem Vulkan die Puppen tanzen; ein Indianer ohne Kanzleramt indes kennt keinen Scherz.

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