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Kultur: Tod aller Kritiker

Helmut Böttiger über die Auslieferung des neuen Walser-Romans Da stehen sie wieder, die hohen Herren, die Kritiker, die nervös an ihren Krawatten nesteln und ungeheuer auf dem Quivive sein müssen: es geht um jede Sekunde. Es geht womöglich gar ums Überleben.

Helmut Böttiger über die Auslieferung des neuen Walser-Romans

Da stehen sie wieder, die hohen Herren, die Kritiker, die nervös an ihren Krawatten nesteln und ungeheuer auf dem Quivive sein müssen: es geht um jede Sekunde. Es geht womöglich gar ums Überleben. Sie lassen sich nicht aus den Augen, sie sind ständig auf dem Sprung. Gleich könnte der Lieferwagen um die Ecke biegen und seine ominöse Fracht ausladen. Am besten, man reißt sie dem Fahrer gleich aus der Hand und wartet nicht erst, bis sie in den undurchsichtigen Kanälen des Suhrkamp Verlages verschwindet. Denn was dann geschieht, ist höchst ungewiss.

Heute morgen wird die endgültig gedruckte Fassung des Martin-Walser-Romans „Tod eines Kritikers" von der Druckerei geliefert. Autor und Lektor hätten noch einmal letzte Hand angelegt, sagt man bei Suhrkamp, alle bisherigen Fassungen seien nichtig. Man lehnt es aber rigoros ab, noch einmal Druckfahnen herauszurücken. Wer will, könne das Buch heute morgen beim Verlag abholen.

Damit kehrt der Verlag zu seinem früheren Erfolgsprinzip zurück. Wir erinnern uns gern daran, wie ein seriöserer älterer Herr vor ein paar Jahren zu nachtschlafener Zeit eigens aus der bayerischen Landeshauptstadt nach Frankfurt reiste, um direkt beim Suhrkamp Verlag ein druckfrisches Exemplar des neuen Romans von Peter Handke zu ergattern. Während der Zugfahrt zurück musste er das fast tausendseitige Exemplar durchgelesen und auch gleich die Kritik dazu geschrieben haben, denn am nächsten Tag war schon die Drucklegung für seine Zeitung. So muss man sich die richtige Öffentlichkeitsarbeit beim Suhrkamp Verlag vorstellen! So entsteht Aura!

Bei Walser sind sie allerdings nervös geworden. Da schlug das Pendel vorübergehend in die gänzlich entgegengesetzte Richtung aus: Das Manuskript, kaum war seine Existenz ruchbar geworden, wurde per Email in alle Himmelsrichtungen verschickt. Alle zitierten daraus, und laufend wurden bereits Kritiken veröffentlicht. Keiner ahnte, dass das alles gar nicht so gemeint war. Dass jetzt alles wieder von vorn losgehen soll. Und so tummeln sich heute morgen die Kritiker im Foyer des Suhrkamp-Hauses, stehen kurz vor dem Herzinfarkt und beginnen dunkel zu ahnen, was mit dem Titel „Tod eines Kritikers“ wirklich gemeint ist.

Es geht um das Ende des Kritikerwesens schlechthin. Morgen werden wir erfahren, wer überlebt hat.

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