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Kultur: Tod, wo ist dein Stachel?

Das Mahler Chamber Orchestra beim Musikfest.

Dem Regen sei Dank! Sorgt das schlechte Wetter doch dafür, dass sich am Montagabend in der Philharmonie die Schlange der Kurzentschlossenen gegen 19.45 Uhr noch durchs ganze Kassenfoyer windet. So ist der Saal dann immerhin respektabel gefüllt beim Konzert des Mahler Chamber Orchestra. Es ist eine der raren Gelegenheiten, das frei finanzierte Ensemble in Berlin zu erleben. Zwar wird es von der deutschen Hauptstadt aus gemanagt, wegen des niedrigen Preisniveaus kann es sich aber hiesige Auftritte nur dann erlauben, wenn ein staatlich alimentierter Partner mit im Boot ist. In diesem Fall das Musikfest.

Winrich Hopp, der künstlerische Leiter, ermöglicht es dem Publikum zudem, endlich Teodor Currentzis kennenzulernen, einen mittlerweile 41-jährigen griechischen Dirigenten, von dem man sich in der Musikwelt wahre Wunderdinge erzählt. Das Studium absolvierte er in St. Petersburg, und mit seiner eminenten Begabung hätte er problemlos eine klassische Jetset-Karriere anschließen können. Currentzis aber ging lieber als Musikchef gen Osten, zunächst nach Nowosibirsk, dann nach Perm am Ural. Dort arbeitet er wie ein Besessener mit „Musica Aeterna“, einer eingeschworenen Truppe Gleichgesinnter, die sich ebenso für Alte Musik wie für Zeitgenössisches begeistern. Das für seine geistige Beweglichkeit geschätzte Mahler Chamber Orchestra (MCO) gehört zu den wenigen West-Orchestern, bei denen der Grieche regelmäßig gastiert.

Zunächst betreten allerdings erst einmal acht Musiker das Podium, die dirigentenlos Dmitri Schostakowitschs Oktett spielen. Und wie! Man wird förmlich ins Leningrad des Jahres 1925 katapultiert, wo der blutjunge Komponist mit einem Häufchen Junger Wilder die Konservatoriumsmauern sprengen will. Unerhört modern ist diese Partitur, und die MCO-Musiker schärfen mit virtuoser Verve all die frechen Dissonanzen noch einmal radikal zu. Jubel brandet auf, die Hörer sind hingerissen von solcher Starkstrom-Musizierlust. Dann aber kommt Maestro Currentzis – und legt den Schalter um. So exzentrisch sein Outfit im Stil traditioneller Shakespeare-Darsteller wirkt, so sehr seine ausladende Gestik an einen startenden Albatros erinnert: Das Klangideal des Griechen ist samtig weich und breit strömend. Er vermag der Musik eine Sogwirkung zu geben, die den Zuhörer förmlich fesseln soll. Betörend schön erblüht das Mahler Chamber Orchestra unter seinen Händen, Solocellist Thomas Ruge erhält Extra-Applaus für seinen süßen Gesang.

Nur wollen die Werke des Abends so gar nicht zu diesem ästhetischen Ansatz passen. Benjamin Brittens „Phaedra“- Kantate von 1975 zeigt hier keine Frau, die außer sich ist, weil sie aus verschmähter Liebe zur Mörderin wurde. Warmherzig singt Angela Denoke dieses Lamento, mit den Gedanken bereits im Jenseits. Blattvergoldet statt feuerverzinkt wirkt auch Schostakowitschs 14. Sinfonie. Dabei hat sich der Komponist doch hier endgültig von den Fesseln der sozialistischen Geschmacksdiktatur befreit, setzt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit in Töne: über den Tod, den Verlust der Liebe, das menschliche Leiden.

Was Teodor Currentzis mit Angela Denoke und dem Bassisten Petr Migunov daraus macht, ist verstörend, gerade weil es nicht verstört. Nach einem Kunstliederzyklus im Geiste des späten Richard Strauss klingt Schostakowitschs atheistisches Requiem, tröstlich-verklärt von mildem Abendsonnenlicht.

Vielen im Saal gefällt diese Deutung. Wer ihr nicht folgen mag, geht zumindest mit dem guten Gefühl nach Hause, dass sich in der Klassik die Deutungsmöglichkeiten doch nicht immer nur im Detail erschöpfen. Wer es vermag, kann die Botschaft eines Stückes auch radikal anders lesen. Chapeau! Frederik Hanssen

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