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Kultur: Tödliche Liebesdienste

Zu schön für diese Welt: Uraufführung von Kaija Saariahos „L’amour de loin“ im Haus der Berliner Festspiele mit Kent Nagano

Erst Erstaunen, dann Verwirrung, schließlich so etwas wie innere Kapitulation – und überwältigende Müdigkeit: Ja, ist die eigene Erinnerung denn so trügerisch? Hat das zeitgenössische Musiktheater eine so kurze Halbwertzeit? Nach der Uraufführung von Kaija Saariahos „L’amour de loin“ bei den Salzburger Festspielen 2000 dachte man noch, Peter Sellars sei schuld, dieser unverbesserliche Regie-Esoteriker, mit seinen endlos-edlen Stilisierungen, seinem garantiert humorfreien Gestakse durch knöcheltiefes Bühnenwasser. Schuld am ebenso anachronistischen wie bedeutungshuberischen Gestus dieser Musik, schuld am Fehlen jeglicher dramatischer Erotik. Die Ohren sehen in der Oper eben nur, was die Augen hören.

Nun, sechs Jahre später, allerdings konnte man sich im Haus der Berliner Festspiele eines Besseren belehren lassen. „L’amour de loin“ konzertant, das heißt mit der „medienkünstlerischen Gestaltung“ einiger herzlich überflüssiger Videos (Jean-Baptiste Barrière). Am Pult Kent Nagano, der schon die Uraufführung leitete. Es singen der Rundfunkchor Berlin und drei gänzlich andere Solisten. Es spielt das DSO. Das Ganze nennt sich etwas großspurig „Vormusik“, eine Art Auftaktveranstaltung zur MaerzMusik, dem Festival für aktuelle Musik in Berlin, und ist zunächst eine Prestigefrage - inklusive nachfolgendem Paris-Gastspiel (wo wiederum Ende März Saariahos zweite Oper zur Uraufführung ansteht). Nimmt man noch das vier prominente Kompositionsaufträge umfassende Ad- Astra-Projekt von Simon Rattle und den Philharmonikern in zwei Wochen hinzu, an dem Saariaho ebenfalls beteiligt ist, so wird klar: Die eigenbrötlerische Finnin mit der konzentrierten Hingabe ans Un- Erhörte, mit dem so zarten Händchen für live-elektronische Effekte und kunstvoll mäandernde Klangereignisse, sie ist bestens im Geschäft. Das mag ihr von Herzen gegönnt sein.

Allerdings fragt man sich – und Saariaho selbst ist es, die einem den Bart dieser Frage aufnötigt –, ob das 21. Jahrhundert denn tatsächlich so akademisch-versöhnlich klingt respektive klingen darf, so unangekränkelt von aller splitterhaft- fragmentarischen Weltwahrnehmung, allem Zynismus, allem bitteren Erwachen? Gewiss, die Geschichte des Troubadours Jaufré Rudel, der sozusagen die Fassung verliert, indem er seine ferne Geliebte, die Gräfin von Tripoli, leibhaftig begehrt und Kunst und Leben tödlich verwechselt, diese Geschichte spielt nun einmal im Mittelalter und also in der Ewigkeit (Libretto: Amin Maalouf). Und natürlich wird auch in Frankreich, wo Saariaho lebt, heute anders komponiert, lustbetonter, kopffreier, ideologisch unbedenklicher, als es einst der gestrenge Pierre Boulez postulierte.

Orchester, Chor und Sänger jedenfalls widmen sich ihrer Sache mit Inbrunst (Magali de Prelle als heftig chargierende Clémence, Marie-Ange Todorovitch als markante Pilger-Figur sowie, schwerst erkältet, Daniel Belcher als Jaufré). Und Kent Nagano ist diese Partitur, bei allem kühlen Kopf, offenbar eine echte Herzensangelegenheit. Dennoch vermag Saariahos gut zweistündiger Klangfluss, dieses virtuose, sich bis in kleinste Farbnuancen verästelnde Spiel mit Zeit und Raum nicht recht zu überzeugen. Viel Atmosphäre, ja, viel handwerkliches Können, auch Klugheit, Sensibilität. Da huschen gleichsam verschleierte musikalische Botschaften zwischen den Protagonisten hin und her, werden einsame chromatische Gipfel erklommen (als der Name der Gräfin enthüllt wird oder sie später, in ihrer ersten Verzweiflung, vom Glauben abfallen will), da klingt mancherlei Höfisch-Gedrechseltes durch und saugt sich alle „Ferne“, alle Liebesweite mit einem immer konkreteren Repertoire der Sehnsuchtsgebärden an.

Jede Erfüllung, sagt Saariaho, tötet ein Stück Kunst. Deshalb muss Jaufré sterben. Zu viel eifriges Kunststreben aber, möchte man ihr zurufen, erstickt auch jede Erfüllung, alles Erleben im Keim. Weshalb diese Partitur - Gesangsszene? Kantate? Traktat? - in ihrer epischen Breite, in ihrer Verneinung aller dramatischen Zuspitzung und Tiefenschärfe letztlich nicht funktioniert. Oder viel zu gut funktionoiert. Denn dafür, dass auf der Bühne zwei Stunden lang fast nichts passiert, ist Saariaho einfach nicht hart, nicht radikal, nicht erbarmungslos genug. Ein paar höfliche Morsezeichen an die meterdicken Mauern des eigenen Elfenbeinturms machen noch keine Zeitgenossenschaft. Und Oper will nicht Minnedienst, sondern Sex. Daran zumindest hat sich in den vergangenen sechs Jahren wenig geändert.

Christine Lemke-Matwey

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