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Kultur: Top Secret

Marius Meller über den geheimen Sinn von Seminararbeiten Davon haben wir immer geträumt, wir Ex-Langzeitstudenten, die wir noch vor der Einführung der Strafgebühr ab dem 14. Semester in aller Humboldtschen Seelenruhe und Gründlichkeit mit dem Projekt Studentsein begonnen hatten, nach der Zwischenprüfung noch ins dritte Fach Philosophie, Altgriechisch oder Hebraistik eingestiegen sind, um dann irgendwann mit einem brutalen Fußtritt in Form von 1000 Mark pro Semester in Richtung Examen und schließlich auf den freien Arbeitsmarkt geboxt zu werden (mit Recht – denn wir wussten ja schon alles).

Marius Meller über den geheimen

Sinn von Seminararbeiten

Davon haben wir immer geträumt, wir Ex-Langzeitstudenten, die wir noch vor der Einführung der Strafgebühr ab dem 14. Semester in aller Humboldtschen Seelenruhe und Gründlichkeit mit dem Projekt Studentsein begonnen hatten, nach der Zwischenprüfung noch ins dritte Fach Philosophie, Altgriechisch oder Hebraistik eingestiegen sind, um dann irgendwann mit einem brutalen Fußtritt in Form von 1000 Mark pro Semester in Richtung Examen und schließlich auf den freien Arbeitsmarkt geboxt zu werden (mit Recht – denn wir wussten ja schon alles). Wir träumten davon, dass unsere mit emsigem Fleiß recherchierten, mit kalter Logik strukturierten und mit Herzblut geschriebenen Seminararbeiten – in denen man möglichst einen Stil anpeilte, wie ihn Professoren an der Pensionsgrenze kultivieren –, wir träumten also davon, dass unsere akademischen Elaborate mehr als den Korrekturassistenten oder den letzten Ordinarius, der die Hausarbeiten noch selber zur Kenntnis nimmt, zu Lesern haben sollten, wir träumten von vielen Lesern, wir träumten von Öffentlichkeit für unsere abseitigen aber geliebten Produkte.

Wir träumten von dem, was letzte Woche dem kalifornischen Ex-Studenten Ibrahim al-Marashi widerfuhr, als er die Zeitung aufschlug und Ausschnitte aus seiner viele Jahre alten politikwissenschaftlichen Seminararbeit über den Irak lesen durfte. Die Zeitung zitierte aber nicht direkt aus al-Marashis Opus, sondern aus einem „Geheimdienstdossier“, das die britische Regierung Montag letzter Woche ohne Quellenangabe veröffentlicht hatte, um den US-Außenminister Powell bei seiner Beweisführung zu unterstützen. Also rief der Student bei der Zeitung an, um auf den Urheberrechtsverstoß aufmerksam zu machen – und löste damit den wohl spektakulärsten Geheimdienstskandal des Königreichs aus.

Skandal? Weil unser Vertrauen in das Hintergrundwissen der britischen und anderer Regierungen erschüttert wäre, wenn sie einen Krieg so „begründen“? Weil wir den nächsten James-Bond-Film mit anderen Augen sähen? Nein: Weil die Geheimdienste bisher jenen unermesslich wertvollen Ozean von Wissen ignorierten, den all die unveröffentlichten Seminararbeiten dieser Welt darstellen, etwa die, die im Internet unter „hausarbeiten.de“ vor sich hin schlummern und darauf warten, dass ein heutiger Kurzzeitstudent sie sich runterlädt, um für den nächsten Schein Zeit zu sparen (Lernökonomie), oder eben, dass der Secret Service oder der BND darauf aufmerksam werden.

Auf eine geheimdienstliche Verwertung warten noch unter anderem: „Hierarchien von Illokutionsebenen in Gebrauchstexten“ (Universität Heidelberg SS 1999), gut verwendbar für Verschlüsselungsexperten und Nachrichtendienstkryptologen. Ferner: „Populationsdynamische Charakterisierung von Oryctolagus corniculus (Wildkaninchen) in Südaustralien“ (Humboldt Universität WS 2000/2001), enthaltend nachrichtendienstlich relevante Erkenntnisse zur pilzgestützten Bekämpfung von Landwirtschaftsschädlingen (frühe Biowaffen). Nur bitte nicht wieder „Oppositionelle“ durch „Terroristen“ ersetzen und die Quellenangaben weglassen!

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