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Kultur: Topografie der Tropen

Fremde Fußspuren am Strand: Das Ethnologische Museum in Berlin-Dahlem dokumentiert die Vermessung der Welt

In seinen „Traumpfaden“ erzählt Bruce Chatwin, dass das Land der australischen Aborigines mit einem dichten Netz von „Songlines“ überzogen ist. An ihnen waren die Ahnen entlanggewandert und hatten ihre Spuren in Gestalt von Liedern hinterlassen. Die Landkarte der Aborigines kennt statt Besitzgrenzen nur Etappen, an denen diese Lieder übergeben werden. Sie gleicht einer Partitur.

Andere Kulturen, so ließ sich vom schreibenden Abenteurer Chatwin lernen, organisieren ihren Raum anders als Europäer. Diesen alternativen Raumordnungskonzepten widmet sich jetzt das Ethnologische Museum Berlin. Damit liegt man im Trend: Raum hat Konjunktur. Nach dem Hype des Virtuellen, nach der Angst vor der Vernichtung des Realen im Beschleunigungsrausch von Transport- und Medientechnologien lockt der wiederentdeckte Raum als Refugium.

Raum verspricht Vergewisserung, konkrete Materialität. Doch dass Räume keine festen Gegebenheiten sind, sondern kulturell unterschiedlich konstruiert werden, zeigt die Ausstellung „Vermessen: Kartographie der Tropen“. Das Gebiet der Tropen liegt zwischen den Wendekreisen von Krebs und Steinbock, umfasst also Teile Australiens, Zentralafrikas, Lateinamerikas und der Südsee. Auf diesem Terrain überlagern sich Mapping-Verfahren der indigenen Kultur mit europäischer Entdeckungs- und Kolonisationsgeschichte. Gerade erst hat Daniel Kehlmanns Weltvermessungsroman den Anteil Alexander von Humboldts am Projekt der Tropenerkundung in Erinnerung gerufen – nachdem ihm Hans Magnus Enzensbergers große „Kosmos“-Edition im Jahr zuvor den Weg bereitet hatte. Ebenso interessant ist die Arbeit, die Franz Junghuhn Mitte des 19. Jahrhunderts als „Humboldt von Java“ in Niederländisch-Ostindien, dem heutigen Indonesien, verrichtete. Seine Java-Monografie und die detaillierte Karte der Insel gehören zu den Prunkstücken der Ausstellung. Sie verweisen auf den Konnex von Kartografie und Kolonialismus. Denn Weltvermessungslust spielt fast unweigerlich kolonialem Begehren in die Hände.

Beim Gang durch die Ausstellung begegnet man europäischen Großkartografen wie Joan Blaeu, Abraham Ortelius oder Martin Walseemüller. Doch dann sind da chinesische und arabische Karten, indische und thailändische Kosmologie-Darstellungen, ein balinesischer Erdbebenkalender. Und plötzlich versteht man die tiefe Verblüffung Robinson Crusoes, als er am Strand seiner einsamen Insel Fußspuren entdeckt: Dass da schon jemand ist, dass kein jungfräuliches Land seines „Entdeckers“ harrt, bildet eine verdrängte Urszene des Kolonialismus. Und die, „die da schon sind“, kennen Verfahren der Raumbeschreibung, die viel über ihr Weltbild offenbaren.

Ein 4000 Jahre alter ägyptischer Sargboden etwa ist mit einer „Topografie des Jenseits“ versehen, die zwei mögliche Wege nach dem Tod verzeichnet und damit die unbekannte Sphäre zu bannen versucht. Von einem paradiesischen Endpunkt aber fehlt jede Spur. Vorspanische mexikanische Codices verschränken Lageinformationen mit Auskünften über die zeitliche Position eines Ortes auf einer Route. Oder sie stellen einen Menschen in den Mittelpunkt des Raums, der mit Füßen, Kopf oder Ohren Richtungen angibt. Wie in der Südsee navigiert wurde, zeigen die aus Palmenrippen gefertigten „Stabkarten“, auf denen Inseln mit Muscheln und Korallen markiert sind. Dass ihre Anordnung nicht räumlichen Entfernungen, sondern der benötigten Reisezeit gehorcht, berichtet schon Fanny Osbourne, die sich mit ihrem Mann Robert Louis Stevenson auf der Südsee-Insel Samoa niedergelassen hatte.

Keine Frage, großartige Exponate hat man im Ethnologischen Museum zusammengetragen. Allein ihre Anordnung gibt manches Rätsel auf. Warum teilen sich eine Vulkan-Abbildung aus Junghuhns Java-Atlas von 1845 und ein „Plan der Stadt Peking mit russischen Anmerkungen. China 1796-1820“ eine Vitrine? Und was verbindet Zeugnisse deutscher Kolonialgeschichte (wie eine – leider unkommentierte – Afrika-Karte mit dem entlarvenden Titel „Kolonialer Ergänzungsraum Europas“) mit Erd- und Himmelsgloben Matthias Greuters von 1695? Ohne rechten Bezug steht hier ein Theodolit, da eine Tisch-Äquatorialsonnenuhr im Raum. Nicht immer erschließt sich die Systematik der Ausstellung von selbst. Dass sie das europäische Selbstbild im Kontrast mit den Weltbildern aus tropischen Regionen schärft, steht indes außer Zweifel. Und die Zeiten, in denen man unbekanntes Gefilde mit Fabelwesen bevölkerte oder im Inneren Afrikas wilde Tiere vermutete – und „Hic sunt leones“ in die Karten eintrug –, sollten endgültig vorbei sein.

Ethnologisches Museum Dahlem, Lansstr. 8, bis 27.8., Di-Fr 10-18 Uhr, Sa und So 11-18 Uhr, Katalog 20 €.

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