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Kultur: Tor zum Krieg, Tor zu Europa

Heimat Belgrad: Der Architekt und Urbanist Bogdan Bogdanovic wird heute 80 Jahre alt. Ein Gespräch

Herr Bogdanovic, vor nahezu zehn Jahren verließen Sie Belgrad und gingen ins Exil nach Wien. Wie nehmen Sie dieses Exil wahr?

Ich war ein leidenschaftlicher Belgrader. Meine ganze Lebensphilosophie ist mit dieser Stadt verknüpft. Obwohl ich als Architekt viel in der Welt herumgekommen bin, war es für mich unvorstellbar, einmal außerhalb Belgrads zu leben. Aber nach den ersten Milosevic-Jahren und den lebensbedrohenden Anfeindungen, denen ich mich ausgesetzt sah, war meine Übersiedlung nach Wien wie die Rückkehr in eine normale Welt.

Nach dem Sturz von Milosevic haben Sie Belgrad wieder besucht. Welche Gefühle bewegen Sie heute gegenüber Ihrer Heimatstadt?

Als ich nach acht Jahren erstmals wieder nach Belgrad kam, erlitt ich einen Schock. Ich kam in eine mir unverständliche Stadt. Die erste Absurdität, die mir bei der Einfahrt mit dem Zug begegnete, war die, dass ich Neu-Belgrad als weiße Stadt in Erinnerung hatte, die sich nun aber schwarz präsentierte: Die Häuser hatten eine schwarze Patina angenommen. Neben den Bahngleisen türmten sich Berge von Müll, zwischen denen Menschen lebten. Auf dem Bahnhofsvorplatz hatte sich eine Unmenge von Händlern installiert, eine Zusammenballung von Buden und Ständen mit Waren aller Art. Zugleich ist Belgrad von den Autos erobert worden, die ohne irgendwelche erkennbare Regeln und mit kaum vorstellbarer Aggressivität durch die Straßen rasen. Ich hatte den Eindruck, der Auflösung aller zivilisatorischen Gepflogenheiten beizuwohnen.

Der Bürgerkrieg hat das Gesicht der Stadt also grundlegend verändert?

Viele Male in seiner Geschichte wechselte Belgrad sein Gesicht. Ich erinnere mich, wie ich als kleines Kind mit meiner Mutter durch Belgrad spazierte und sie mir Häuser in der Altstadt zeigte, die noch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges zerstört waren. Damals war Belgrad eine sehr kleine Stadt. Dann entstand ein monarchistisches jugoslawisches Belgrad, an das sich das Belgrad der königlichen Diktatur anschloss. Wieder ein anderes Belgrad entwickelte sich zur Zeit der Okkupation. Danach gab es das Belgrad der Partisanen, die sich wie die Heroen aus Homers „Ilias“ gebärdeten, hatten sie doch die Stadt von den Deutschen erobert. Diese Männer waren keine kommunistischen Partisanen nach sowjetischem Muster, sondern eher Snobs, die leben wollten wie die Bourgeoisie. Auf dieser Folie entwickelte sich in der Ära Tito wiederum ein neues Belgrad, jene Stadt, die mir während vieler Jahrzehnte zum Lebensraum wurde.

Und die heute einschließlich ihrer früheren Bewohner nicht mehr existiert...

Die alten Belgrader sind zu einer Minderheit geworden. Vor allem die Intelligenzschicht – die alten Professoren, Ärzte oder Ingenieure – ist zu einer verarmten Minderheit geworden. In den Straßen begegnet man fremden Menschen mit anderen Physiognomien und grobem, aggressivem Verhalten. Und trifft man doch einmal einen sympathischen jungen Menschen, dann stellt man sich sofort die Frage: Wo war er im Krieg? Meine Freunde aus dem „Belgrader Kreis“ sagten mir, dass 5000 bis 7000 Männer, die während des Krieges an Massenmorden beteiligt waren, heute in Belgrad leben.

In Ihren Erinnerungen verweisen Sie auf das Bild, mit dem die Türken Belgrad einst bezeichneten: Sie nannten es das Tor der Kriege. Könnte Belgrad für die balkanischen Länder nicht auch zum „Tor nach Europa“ werden?

Das muss es werden. Belgrad ist ein Phänomen für sich und etwas Wertvolleres, als meine serbischen Landsleute verstehen können. Es ist ein Knotenpunkt, eine Kreuzung der Straßen und Flüsse in Europa. Schon zur Zeit der Türken wurden hier mehr als 20 Sprachen gesprochen. Leider haben die Serben nicht verstanden, welches Kapital es bedeutet, eine Weltstadt auf eigenem Territorium zu besitzen. Ihre Idee war immer, aus Belgrad eine „rein serbische“ Stadt zu machen. Wie es nun weitergehen wird, vermag niemand vorauszusagen. Sollte das Experiment mit der Europäischen Union erfolgreich verlaufen, so könnte es sein, dass auch die balkanischen Nationalisten etwas klüger werden. Aber natürlich ist auch das Gegenteil möglich.

Betrachtet man die Folgen der Ära Milosevic, hat Europa im „Fall Jugoslawien“ dann nicht versagt?

Nein. Was in Jugoslawien geschah, haben wir selbst zu verantworten. Wir haben es hier mit einem urbalkanischen Phänomen zu tun, dessen psychologische Zusammenhänge nur schwer zu erklären sind. Selbst mir, der ich glaubte, mein eigenes Volk gut zu kennen, fällt es schwer zu erklären, welche psychische Veränderung in den Menschen vor sich gegangen sein mag, dass sie zu solchen Exzessen des Wahnsinns und der Gewalt getrieben wurden. Es war ein Ausbruch von geradezu archaischer Urgewalt.

Sie glauben an psychologische Erklärungen?

Ich bin überzeugt, dass die Erklärung nur in den psychischen Schichten zu finden ist. Dies gilt auch für die Tatsache, dass die Überlebenden der Massaker nunmehr beginnen, wieder normal miteinander zu leben. Seit ich in Wien lebe, denke ich darüber nach, was den Zusammenbruch in den Seelen der Serben, Kroaten, Bosnier und Kosovaren bewirkt haben mag. Wie konnte es geschehen, dass Menschen verschiedener Völker und Religionen, die in guter Nachbarschaft miteinander lebten, von einem Tag auf den anderen zu Todfeinden wurden? Ihnen hat der Krieg nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihr Lebenswerk geraubt.

Fast alle von Ihnen geschaffenen Monumente sind zerstört. Wie kommen Sie mit diesem Verlust zurecht?

Sie werden erstaunt sein: sehr leicht. Angesichts der zahllosen Menschenopfer, die dieser Krieg forderte, der zerstörten Dörfer und Städte wäre es schamlos von mir, wollte ich das Schicksal meiner Monumente beklagen. So empfand ich es als ein großes Geschenk, als ich vor kurzem das Memorial Jasenovac besuchte und feststellte, in welch gutem Zustand es sich noch befindet. Auch an anderen Orten haben meine Monumente den Krieg überstanden. Doch die meisten von ihnen wurden schlicht ihrem Schicksal überlassen. In einigen Fällen fand ihre Umwidmung im nationalistischen Sinne statt, indem man sie mit einem serbischen Kreuz versah.

Sehen Sie das Schicksal Ihrer Monumente im Zusammenhang mit dem Verfall von Zeugnissen der Erinnerung auch anderswo in Europa?

Alle Monumente verlieren ihren ursprünglichen Sinn durch die Veränderungen ihrer Umgebung und erhalten nicht selten einen neuen Sinn. Man muss diese Denkmäler als der Stadtszenografie zugehörig betrachten. Anders verhält es sich freilich bei Denkmälern von Diktatoren wie Lenin, Stalin oder Hitler, mit deren Taten ungeheure Menschenopfer verbunden sind.

Was sagen Sie dazu, dass von der Berliner Mauer praktisch nichts mehr vorhanden ist?

Das kann ich nicht verstehen. Die Berliner Mauer teilte nicht nur die Stadt und ihre Menschen voneinander, sie war ein Monument des Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Ich war während der Mauerzeit zweimal in Berlin und habe sie von beiden Seiten kennen gelernt. Diese Erlebnisse zählen für mich zu den dramatischsten, die mir widerfahren sind. Inzwischen scheint es sehr schwer geworden zu sein, jungen Menschen zu vermitteln, was die Mauer war und welche Tragödien sie auslöste.

Wie sollte man generell mit historischen Bauwerken verfahren, die durch Krieg oder sonstige Anlässe zerstört wurden?

Ich bin in diesem Punkt sehr altmodisch: Alles, was an historischen Bauten zerstört wurde, muss Stein für Stein wieder aufgebaut werden. Das ist geradezu ein kulturelles Gebot. Historische Bauwerke gehören zu den wesentlichen Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses einer Nation wie auch des Bewusstseins des modernen, kosmopolitischen Menschen. Deshalb stellt ihre Eliminierung eine Attacke auf das Erinnerungsvermögen, die menschliche Psyche und künftige Generationen dar. Die Bewahrung der kulturellen Integrität gehört zu den wichtigsten Aufgaben Europas.

Und wie ist das bei den Bauwerken aus der NS-Zeit oder den sozialistischen Bauten?

Das ist ein heikles Problem. Was unter Hitler gebaut wurde, ruft bei meiner und vielleicht auch der nachfolgenden Generation todesgesättigte Assoziationen hervor. Die heutige Generation sieht das schon anders. Wollte man die Todesbeladenheit historischer Bauwerke bei ihrer Beurteilung in Rechnung stellen, dann müssten sehr viele, möglicherweise sogar die meisten aus moralischen Erwägungen beseitigt werden, einschließlich der italienischen Renaissancebauten.

Wie bewerten Sie die Signatur der Architektur des 20. Jahrhunderts? Was wird von den verschiedenen Formen und Stilen bleiben?

Von allen wird etwas bleiben: von der stalinistischen Architektur ebenso wie von der faschistischen, von der poststalinistischen Architektur ebenso wie von der modernen und postmodernen westlichen. Wenn man Geschichte wirklich verstehen will, müssen solche materiellen Spuren sichtbar sein. Wir sind es den jungen Generationen schuldig, ihnen zu zeigen, wo und wie wir gelebt haben.

Das Gespräch führte Adelbert Reif.

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