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Kultur: Tote leben länger

Der Anfang vom Ende: „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ rüstet zum finalen Kampf

Juli in London. Kalter, feuchter Nebel liegt über der Stadt, presst sich gegen die Scheiben, drückt auf die Seele. Die Menschen sind frustriert, sie haben Angst. Wer für Einkäufe nach draußen muss, beeilt sich, schnell zurückzukehren. Läden haben geschlossen, ganze Einkaufsstraßen sind menschenleer. Nach Einbruch der Dunkelheit ist London verlassen. „A grim mood has gripped the country.“

Nein, der neue Harry Potter, der am Sonnabend auf Englisch erschienen ist, beginnt keinen Deut fröhlicher, als der vorangegangene endete. Die Wolke von Hoffnungslosigkeit, Depression und Verzweiflung, die sonst erst um Weihnachten herum ihren Höhepunkt erreichte, liegt diesmal schon von Beginn an über dem Buch. Und: Sie liegt nicht nur über der Zauberwelt. Denn, geschickter Kunstgriff, Autorin Joanne K. Rowling steigt diesmal gleich im Zentrum der weltlichen Macht ein, mit Szenen, wie man sie aus den Nachrichten kennt. Der britische Premierminister sitzt in seinem Büro und blickt auf eine katastrophale Woche zurück: Brücken sind eingestürzt, ein Hurrikan hat den Westen des Landes verwüstet, zwei Menschen sind grausam ermordet worden. Man muss nicht die Londoner Schreckens-Bilder von vor einer Woche vor Augen haben, um zu begreifen, dass dieses Katastrophenszenario nichts mehr mit Zauberträumen zu tun hat.

Der Brand, der in Hogwarts begann, hat die Menschenwelt erreicht. Fast scheint es, als habe es J. K. Rowling diesmal systematisch darauf angelegt zu beweisen, dass ihre Bücher nichts mehr mit Kindervergnügen, nichts mehr mit Märchen- und Zauberspaß zu tun haben. Längst ist Harry, der von Band zu Band grausamere, schmerzhaftere, quälendere Kämpfe zu bestehen hatte, kein Kind mehr, längst auch ist der Stoff der humorvollen Internatsgeschichte entwachsen. Rassismus, Sklaverei, Folter, Korruption, Unterdrückung: Immer mehr ist die Zauberwelt in den letzten Bänden zum Spiegel der wirklichen geworden. Nun, im vorletzten Band des Epos, bahnt sich endgültig der Krieg der Welten an.

Die Schlachtaufstellung kommt dabei wie ein Science Fiction daher. Rowlings schwarze Fantasie tobt sich aus. Die Armee der Todes-Esser, der Anhänger des grausamen Lord Voldemort, steht bereit. Die Dementoren, Horrorkreaturen, die der menschlichen Seele alle Freude, alles Glück entsaugen, haben ihren Posten am Gefängnis von Azkaban verlassen und sind im ganzen Land ausgeschwärmt, um Nachwuchs zu rekrutieren. Ja, sogar die Toten sind eigentlich Untote, verlassen ihre Gräber, um auf der Seite des Bösen zu kämpfen. Lord Voldemort, der Unsterbliche, geriert sich als Herr über Leben und Tod.

Und ihm gegenüber das Fähnlein der Sieben Aufrechten, erneut und tragisch geschwächt durch einen schrecklichen Todesfall. Neuzugänge gibt es kaum, abgesehen von dem jovialen, unglaublich dicken Lebemann Horace Slughorn, der als neuer Lehrer nach Hogwarts kommt. Eine komische Figur nach bester Rowling-Manier, karrieregeil, einfluss-süchtig, ein Networker, der vielversprechende Schüler um sich schart, um in allen Zentralen die Fäden zu ziehen. Und doch ist er den vorangegangenen Kandidaten wie dem gnadenlos eitlen Gilderoy Lockhart, dem geheimnisvollen Remus Lupin oder der dämonischen Dolores Umbridge nicht ganz ebenbürtig. Als Kämpe gegen das Böse taugt er nicht viel.

Es scheint, als ob Rowling ihre Figuren zum finalen Kampf neu arrangiert, konzentrierter denn je. Und immer deutlicher wird, was seit dem ersten Band zu ahnen war: Harry wird seinen letzten Kampf allein bestehen müssen. Und es wird – auch dies eine Erkenntnis der vergangenen Bände – ein Kampf sein, den er mindestens ebenso gegen sich selbst wie gegen den Feind kämpfen muss. Denn alle guten Gefühle wie Elternliebe, Freundschaft und Sportsgeist sind ihm schon einmal fast zum Verhängnis geworden. In diesem sechsten Band ist es die Loyalität. Und es gehört nicht viel dazu vorherzusagen, dass es im entscheidenden Kampf die Liebe sein wird, die schon jetzt sanft (und etwas kitschig) als Morgenröte am Horizont erscheint.

Alles hat seinen Grund im Universum der Joanne K. Rowling. So sehr man versucht war, in die letzten, düsteren HarryPotter-Bände Anspielungen auf die veränderte weltpolitische Lage nach dem 11. September hineinzulesen, umso deutlicher wird jetzt, dass es sich bei Rowlings Epos um ein von vornherein geplantes, symmetrisch angelegtes und sehr literarisches Gedankengebäude handelt. Eher als zur Tagespolitik kommen einem Assoziationen zu Dickens’ „Oliver Twist“, zu Orwells „1984“, Harriet Beecher-Stowes „Onkel Toms Hütte“, Tolkiens „Herr der Ringe“ oder, in diesem Band, zu Szenarien des Zweiten Weltkriegs in den Sinn. Michael Maar, einer der klügsten und originellsten Potter-Deuter, hat Recht, wenn er in seinem Essay „Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte“ (Berliner Taschenbuch-Verlag, November 2003) jedes, aber auch jedes Detail als Hinweis auf kommende Ereignisse liest.

Am Ende, so viel ist abzusehen, wird sich der Kreis schließen und jede Frage beantwortet sein. Was „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ die etwas undankbare Aufgabe der Vorbereitung für das Finale erteilt. Die Schlachtordnung wird festgelegt, die Schlacht jedoch noch nicht geschlagen. Und bis dahin wird in Rückblenden so einiges aufgerollt, was zum Verständnis am Ende wichtig werden dürfte. Viel Gerede, wenig Action.

Dafür aber mehr Komplexität: Stärker als die Bände zuvor bezieht sich dieser auf einen anderen, nämlich den zweiten Band „Harry Potter and the Chamber of Secrets“. Wieder steht Tom Riddle, die jugendliche Verkörperung von Voldemort, im Mittelpunkt. Wieder geht es um ein geheimnisvolles Buch des Halbblut-Prinzen, in dem böse Mächte walten. Wieder auch ist es die rothaarige Ginny Weasly, jüngere Schwester von Harrys bestem Freund Ron, der eine entscheidende Rolle zukommt. Und vor allem ist es der zwielichtige Lehrer Severus Snape, dessen zentrale Rolle im Spiel offen gelegt wird, auch wenn das letzte Urteil noch nicht gesprochen ist.

Wenn „Harry Potter and the Half-Blood Prince“ etwas vorzuwerfen ist, dann, dass der Weg für den letzten Band nun zu klar vorgezeichnet ist. Doch auch wenn der Leser sich vielleicht zwischenzeitlich ebenso wenig für Dumbledores Rückblicke in die Vergangenheit interessiert wie der mit Liebes- und anderen Sorgen belastete Harry: Sie sind der Zugang zu Rowlings Philosophie. Die Frage, wie und warum jemand vom Hoffnungsträger zum Bösewicht mutiert, hatte schon den unlängst in die Kinos gekommenen dritten Teil der „Star Wars“-Saga beschäftigt. Anakin Skywalker und Tom Riddle, Darth Vader und Lord Voldemort haben einiges gemeinsam. Dass jemand seine Seele verkauft um der Macht willen, ist ein alter Topos. Doch auch Harry ist nicht unangefochten. Selten sind die Ähnlichkeiten zwischen ihm und Tom Riddle stärker hervorgehoben worden als in diesem Band: beide Musterschüler, beide elternlos, beide einsam und ehrgeizig. Auch Harry Potter ist kein strahlender Held, auch er trägt den Keim des Bösen in sich.

Und doch entlässt Joanne K. Rowling den Leser in dieser Hinsicht beruhigter als in den Bänden zuvor. Harry, den Pubertät, erste Liebe, Eifersucht und Ehrgeiz schwer ins Schliddern gebracht haben, scheint gefestigter als zuvor, fest eingeschworen als „Dumbledores Man through and through“. Nicht ohne Grund nimmt er am Ende Abschied vom geliebten Hogwarts. Er ist kein Schüler mehr. Er ist erwachsen geworden.

J. K. Rowling, Harry Potter and the Half-Blood Prince, Bloomsbury London, 607 Seiten, empfohlener Preis 24,90 €

Christina Tilmann

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