zum Hauptinhalt

Kultur: Tränen der Ostsee

Zwölf Jahre wurde an der Rekonstruktion des Bernsteinzimmers im Petersburger Katharinenpalast gearbeitet. Nun ist sie abgeschlossen

„Feuer“ soll die leicht kurzsichtige Katharina II. gerufen haben, als ihre Kutsche sich dem Palast näherte. Doch es waren nur die letzten Strahlen der Abendsonne, die ein Flammen-Inferno vorgaukelten, reflektiert durch das kostbare Interieur - den Bernstein.

Lückenlos deckt er drei Wände des Paradesaals. Vom Boden bis zur Decke. Nur die Fensterfront wurde ausgespart. Jede Wand unterteilt sich in mehrere Paneele - große Spanholzplatten, auf die der Stein, in dünne Scheiben zersägt, mit Harz aufgeklebt wurde. Zehn mal zehn Meter misst der Saal, wo Wandspiegel, Zierkommoden, vergoldete Leuchter und Mosaiken aus Edel- und Halbedelsteinen sich harmonisch zu einem Kunstwerk fügen, das ganz Europa fast zwei Jahrhunderte lang als „Achtes Weltwunder“ bestaunte. Am 31. Mai wird das rekonstruierte Bernsteinzimmer im Beisein von Bundeskanzler Schröder und Russlands Staatschef Putin eröffnet, gestern wurde die Rekonstruktion offiziell abgeschlossen.

Und es ist ein Wunder: Licht und Schatten veranstalten eine wilde Jagd auf den Fragmenten, die den gesamten Warmbereich des Farbspektrums abdecken – von dunklem Waldhonig über tiefes Rubinrot bis hin zu hellstem Zitronengelb. Jedes Paneel wird von einem Rahmen umschlossen, für den dickere Scheiben verwendet wurden. Was aus größerer Entfernung wie abstrakte Malerei aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als raffinierte Komposition von eingravierten Miniaturen – Vögel, Engel, Ranken und florale Motive, die in den Ecken zu Schnörkeln auslaufen. Häufig mit Halbedelsteinen unterlegt, die grüne, blaue und rote Blitze auf die Spiegel werfen, die in die beiden Stirnwände eingelassen sind – um Material zu sparen. Der Grund: Das neue Bernsteinzimmer ist größer als das alte.

„Bernstein lebt“, sagt Werkstattleiter Wladimir Mesenzew. „Er ist ziemlich kapriziös, denn er verändert sich ständig. Unsere Vorgänger haben das nicht gewusst und ihn auf Eiche geklebt, die sich später verzog. Bernstein reagiert ähnlich, auch er trocknet aus und verändert seine Form." Das Ergebnis: Ständig fielen Steine von den Wänden, dauernd musste geklebt und ausgebessert werden. Rechte Freude, befürchtet Mesenzew, hatte daher wohl keiner der Besitzer an dem kostbaren Raum.

„Elektron“ nannten die Karthager das im Meer zu Stein geronnene Harz versunkener Kiefernwälder. Ein Kilo Bernstein wogen die Kaufleute aus Nordafrika zehnfach gegen Gold auf, wenn ihre Segler nach langem, gefahrvollen Törn durch das „Neblige Meer“ Anker vor den Küsten Albions warfen. Doch die Briten waren nur Zwischenhändler für die „Tränen der Ostsee“. In Polen und Litauen erzählt man sich bis heute die Geschichte von Jurata, der Tochter des Meerkönigs, die ihre Liebe einem einfachen Fischerjungen schenkte. Der ergrimmte Vater ließ daraufhin ihren Palast auf dem Grund der See zertrümmern. Bruchstücke spülen die Wellen bei Sturm bis heute an den Strand. Die größten und schönsten im einstigen Ostpreußen.

Eben dort gibt Preußenkönig Friedrich I. 1701 das Bernsteinzimmer in Auftrag. Ursprünglich für das Palais in Charlottenburg bestimmt, wird es später Prunkstück im Stadtschloss von Berlin. Die Pläne für das ehrgeizige Projekt – aus Bernstein wurden bis dato nur kleinere Ziergegenstände gefertigt – stammten vermutlich von Hofarchitekt Andreas Schlüter. Friedrichs Nachfolger, Wilhelm I., besser bekannt als Soldatenkönig und von eher schlichter Lebensart und Gemütsverfassung, fand an dem unvollendeten Kunstwerk keinen Gefallen und schenkte es Peter I.. Der soll sich fürstlich revanchiert haben: mit 55 Grenadieren von stattlicher Körpergröße für Preußens „Langen Kerls“. Richtig zu würdigen wusste das Berliner Geschenk offenbar erst Peters Tochter Elisabeth. Francesco Rastrelli, ihr Lieblingsbaumeister, ließ es als Wandvertäfelung im Winterpalais anbringen, wohin Friedrich II. weitere Ergänzungen aus baltischem Bernstein schickte. 1755 nahm die Zarin es mit in ihre neu erbaute Sommerresidenz bei St. Petersburg, das Katharinenschloss, benannt nach ihrer Mutter, der Zarin Katharina.

Dort verbleibt es bis 1941. Im Juni des Jahres überfällt Hitler die Sowjetunion, die Front rückt beängstigend schnell näher. Bevor sich der Blockadering um die Stadt schließt, schaffen sowjetische Fachleute es gerade noch, die Ausstattung des Bernsteinzimmers nach Sibirien auszulagern. Die kostbaren Wände dagegen demontiert im November eine Sondereinheit der Wehrmachts-Heeresgruppe Nord und schickt sie, in 27 Kisten verpackt, nach Königsberg, wo sie im Schloss neu aufgestellt werden. Zur Jahreswende 1945, die „Katjuschas“ der Sowjetarmee sind bereits zu hören, werden sie dort erneut abgebaut. Seither fehlt jede Spur. Was Glücksritter und Wünschelrutengänger nicht davon abhält, seit mehr als einem halben Jahrhundert nach dem Zimmer zu fahnden. Allein die Internet-Suchmaschine MSN bringt zum Bernsteinzimmer weit über 3000 Verweise. Die meisten zum möglichen Verbleib. Ein bisschen Wahrheit und viel Dichtung. Die mit Abstand wüsteste Spekulation: Das Bernsteinzimmer sei auf der „Kursk“ versteckt gewesen und sollte ins Ausland geschmuggelt werden. Um das zu verhindern, sei das russische Atom-U-Boot im Sommer 2000 von der eigenen Marine angegriffen und auf den Grund der Barentssee befördert worden. Das „achte Weltwunder“ scheint unwiederbringlich verloren.

Die Geschichte des neunten beginnt 1990: Eher durch Zufall entdecken Restauratoren 86 Fotos aus den Dreißigern. Tatjana Scharkowa von der Museumsleitung kann sich noch gut erinnern: „Schon 1979 beschloss der UdSSR-Ministerrat die Nachbildung. Bis dahin hatte man immer noch gehofft, dass sich das Bernsteinzimmer doch noch finden wird. Dann suchte man 11 Jahre lang in Archiven nach Unterlagen, um eine originalgetreue Kopie anfertigen zu können“.

Doch die Fotos waren schwarzweiß, die Übersetzung der Graustufen in Farben eine Sisyphus-Arbeit, für die Alexander Kedrenskij Monate brauchte. Lob wehrt er dennoch ab: Immerhin gab es ein 1918 gemachtes Farbdia und Mini-Fragmente des Zimmers. „Die“, sagt Kedrenskij, „legten wir auf weißes Papier, fotografierten sie ebenfalls in schwarzweiß und bekamen so Aufschluss, welche Grautöne welche Farben darstellen. Von braun über rubinrot bis zitronengelb.“

Acht Millionen Dollar kostete die russische Regierung das Unternehmen, sie bezahlte fast sechs Tonnen Material und 12 Jahre lang Dutzende von Arbeitskräften. Eine Tafel erinnert daran, dass auch die deutsche Ruhrgas AG das Projekt seit 1999 mit 3,5 Millionen Dollar unterstützt. Anderenfalls wäre der Termin für die Fertigstellung – das 300. Stadtjubiläum von St. Petersburg Ende Mai – wohl nicht zu halten gewesen.

Die Restauratoren wissen nicht so recht, ob sie weinen oder lachen sollen: Einerseits sicherte die deutsche Finanzspitze den Fortgang der Arbeit, andererseits schlossen sie das Projekt damit schneller ab, als ihnen lieb ist. Mit den früher üblichen Zwangspausen hätten sie noch Jahre ihr Auskommen gehabt. Souvenirs, sagt der Steinmetz Alexander Krylow und meint damit Kitsch, wolle er künftig dennoch auf keinen Fall herstellen. Wahrscheinlich, fürchtet der Endvierziger mit Popenbart, müsse er auf Glasbläser umsatteln oder zur Feuerwehr gehen. Oder nach Deutschland, wo es noch Etliches zu tun gibt: „Im Grünen Gewölbe in Dresden zum Beispiel. Hier im Palast und auch in der Eremitage dagegen ist alles, was aus Bernstein besteht, schon restauriert.“

Leider, meint er, hat niemand die Absicht, ein zweites Bernsteinzimmer anfertigen zu lassen. Für Krylow so etwas wie ein unerfüllter Traum. „Wer sich heute mit Bernstein befasst, geht von der Besonderheit und Schönheit des Steins aus. Im 17. und 18. Jahrhundert, als das Original erschaffen wurde, gestaltete der Künstler den Stein.“ Der hatte zu gehorchen, wurde geformt und sogar koloriert. Eine Kommode des Originals beweist, wie Recht Krylow hat. Sie und eines der Florentinischen Mosaike – Einlegearbeiten aus Onyx, Jaspis und Marmor, die die menschlichen Sinne darstellen – sind die einzigen Fragmente des verschollenen Wunders, die bisher wieder auftauchten. Ausgerechnet jenes Mosaik, das bereits als Kopie wiedererstanden und schon in die Wand eingelassen war. Putin selbst nahm im Mai 2000 das Original entgegen, das inzwischen auf einer Staffelei direkt vor der Nachbildung steht. Auch fünfzig Jahre nach Kriegsende, sagte der damalige Kulturbeauftragte der Bundesregierung, Michael Naumann in Anspielung auf das Dauerhickhack um die Beutekunst bei der feierlichen Rückgabe, gäbe es im gemeinsamen europäischen Haus „noch immer ein paar unmöblierte Zimmer“.

Zur Startseite