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Transtömer bei der Verleihung des Literaturnobelpreises.

© rtr

Tranströmers Werk: Die Dinge flammen auf

Notizen aus Randgebieten und Aufwachräumen: Tranströmers lichtes lyrisches Werk. Die Entscheidung der Nobelpreijury ist literarisch unanfechtbar – und menschlich mutig.

Von Gregor Dotzauer

Nicht einmal seine Frau wird wissen, was genau er heute, mit 80 Jahren, sieht, wenn er die Worte „Mein Leben“ denkt. Der Lichtstreif in Form eines Kometen, den Tomas Tranströmer als 60-Jähriger ausmachte, hat womöglich weiter an Leuchtkraft verloren. Aber schon damals, kurz vor seinem Schlaganfall, fürchtete er sich, noch einmal „das lichtstärkste Ende“ aufzusuchen, „die sehr frühe Kindheit, wo die wichtigsten Züge in unserem Leben festgelegt werden.“ Er empfand es als tödliche Gefahr, „sich in diesen verdichteten Bezirken zu bewegen“, wie er in dem schmalen Band „Die Erinnerungen sehen mich an“ notierte. Insofern war es für ihn auch eine Erleichterung, „weit im Kometenschweif drinnen“ zu sein, dem zugleich spärlicheren und breiteren Teil dessen, was einem an Erlebnissen zur Verfügung steht.

Wie auch immer die Entfernungen wachsen: Als Lyriker hat er von Anfang Distanzen vermessen: den Übergang vom Träumen zum Wachen, vom Fürsich- und Beisichsein zum sozialen Wesen, vom Sommer zum Herbst, vom Sprechen zum Schweigen, von der Adoleszenz zum Erwachsenendasein. Und es ist das einzige offene Geheimnis seiner Dichtung, dass er sich in Dämmerreichen und Zwischenzonen aller Art stets am wohlsten fühlte. Der Rätselcharakter seines Schreibens besteht nämlich gerade darin, dass die Erfahrung dieser Aufwachräume in den klarstmöglichen Worten und der äußersten sinnlichen Konkretion festgehalten wird.

Anders als bei Symbolisten und Surrealisten rangiert bei Tranströmer das Unbewusste nämlich nicht über dem Bewussten. Während sich Saint-Pol-Roux einst mit dem Schild „Le poète travaille“ zum Schlummern zurückgezogen haben soll, neigt Tranströmer eher zu einem schlaftrunkenen Hyperrealismus, der seinen empirischen Grund in frei imaginierten Bildern hinter sich lässt. „Männer in Overalls von der gleichen Farbe wie der Boden kommen / aus einem Graben heraus“, heißt es in „Randgebiet“. „Es ist ein Übergangsgebiet, toter Punkt, weder Stadt noch Land. / Die Baukräne am Horizont wollen den großen Sprung tun, die Uhren / aber wollen nicht.“

Daran hat sich, seitdem er 1954 mit seinem Debütband „17 Gedichte“ der schwedischen Literatur einen Weg aus der politischen Selbstverpflichtung nach dem Zweiten Weltkrieg wies, kaum etwas geändert. Auf einmal durfte man wieder von Größe und Elend der menschlichen Einbildungskraft sprechen, ohne dass einem im Angesicht der Welthistorie ein schlechtes Gewissen schlagen musste. Gleich das erste Gedicht „Präludium“ nimmt die Spur auf, die sein gesamtes Werk durchzieht: „Das Erwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum./ Frei vom erstickenden Wirbel, sinkt / der Reisende der grünen Zone des Morgens entgegen. / Die Dinge flammen auf. In der zitternden Position der Lerche /nimmt er die unterirdisch schwingenden Lampen / der mächtigen Baumwurzelsysteme wahr.“

Lesen Sie auf Seite zwei, warum Tranströmer alles andere als ein Idylliker ist.

Dabei ist Tranströmer alles andere als ein Idylliker. So wenig er dichtend Krieg, Hunger, ja selbst individuelles Unglück verarbeitet, so sehr sieht er seine Aufgabe darin, die Sprache vor denen zu schützen, die sie für gleich welche Interessen instrumentalisieren. Seine literarische Verantwortung setzt eine Stufe unterhalb jeder offen humanistischen Idee an.

Das Gedicht ist für ihn kein Werkzeug weltanschaulicher Bekenntnisse. Es schafft, wie er 1968 im Literarischen Colloquium Berlin erklärte, vielmehr erst die Voraussetzungen, die Dinge jenseits ihrer unmittelbaren Verwertbarkeit zu betrachten: „Wie an einem Bahnknotenpunkt, wo sich die Züge aus allen Richtungen treffen, gibt ein Gedicht plötzlich einen neuen Kommunikationsknotenpunkt, von dem aus die Wirklichkeit zwar nicht erklärt, aber in einer neuen Beobachtung gezeigt wird.“

Das schließt die Kenntnis der weltpolitischen Lage, die Tranströmer auf Reisen durch Afrika und die USA bereits in den sechziger Jahren erwarb, mit ein. Es bedient sie nur nicht. Und auch als Schreibender hatte er durch seine bürgerlichen Berufe als Gefängnispsychologe und Berufsberater stets ein Gegengewicht zu dem, was seine Zeitgenossen (und die Epigonen) als reinen Imagismus missverstanden. Allerdings sucht er von dem Ort, von dem aus er Wirklichkeit beobachtet, immer wieder nach dem Punkt, an dem die Spannung von Sprache und Gegenstand in einer fast mystischen Schau zusammenbricht.

Es gibt viel autobiografisches Material in Tranströmers lyrischem Werk, das auf Deutsch in den Bänden „Sämtliche Gedichte“ und „Das große Rätsel“ bei Hanser vorliegt. Doch es handelt sich keineswegs um autobiografische Dichtung. Die Momente, die dem Ich dieser Texte zugestoßen sind, haben sich vermutlich alle ereignet. Aber sie markieren eine Grenze, wo sie diesem Ich nicht mehr gehören, inneres Erleben und äußeres Dasein verschwimmen und Subjektivität sich ihrem Nullpunkt nähert.

Formal lässt sich Tranströmer, der zwar eine Zeitlang Schule gemacht hat, keiner Schule zuordnen. Vom Freirhythmischen über die sapphische Ode bis zum Prosagedicht kennt dieser stille Einzelgänger viele Tonlagen, die sich gerade in den gebundeneren Formen leider nicht immer ins Deutsche retten lassen.

Die Königlich-Schwedische Akademie in Stockholm hat ihre Entscheidung damit begründet, dass Tranströmer durch seine „dichte und zugleich transparente Sprache“ und die „komprimierten, erhellenden Bilder neue Wege zum Wirklichen“ weise. Sie ist literarisch unanfechtbar – und menschlich mutig. Denn schon in den vergangenen Jahren spielte die Überlegung, ob der gelähmte Tranströmer wohl noch eine Nobelvorlesung werde halten können, erklärtermaßen eine Rolle. Dieses Jahr hat sich die Jury mit Glück darüber hinweggesetzt.

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