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Ewigkeit. 639 Jahre soll „Organ2/ASLSP“ von John Cage „so langsam wie möglich“ in der Halberstädter Burchardikirche aufgeführt werden. Nächster Klangwechsel: 5. Juli.

© dapd

Transzendente Klänge: Drogen von oben

Kirchenflucht war gestern: Warum es die Neue Musik wieder so stark zum Glauben zieht - von der Maerzmusik bis zum Lucerne Festival

Wie funktioniert es eigentlich? Manifestieren sich die Gedanken, die Komponisten tagtäglich beschäftigen, ganz von selbst in ihrer Musik? Oder werden sie mit Themen beauftragt und zwar möglichst so, dass auch das Publikum sich dafür interessiert? Die wachsende Präsenz von religions- und glaubensbezogenen Themen in Programmen zeitgenössischer Musik wirft die Frage nach dem Motor hinter dieser Tendenz auf.

Einen spirituellen Schwerpunkt setzte dieses Jahr nicht nur das Berliner Festival für neue Musik Ultraschall. Die Berliner Philharmoniker etwa betrauten Jonathan Harvey mit der abendfüllenden, im Oktober uraufgeführten Komposition „Weltethos“ auf Texte des katholischen Theologen und Projektinitiators Hans Küng. In Leipzig, zum 800. Jubiläumsjahr des Thomanerchors, schreiben gerade fünf Komponisten von Weltrang (unter ihnen Hans Werner Henze, Krszyzstof Penderecki und Heinz Holliger) neue Werke zu den höchsten Kirchenfesten. Und auch das prestigereiche Lucerne Festival setzt seine bevorstehende Sommersaison unter das Thema „Glaube“. Die Liste ließe sich fortführen. Offenbar treibt das Thema wirklich um. Aber warum und warum ausgerechnet jetzt? Ein Symptom, mal wieder, der Krise? Welche Rolle spielt die neue Musik in einer Zeit allgemeiner Kirchenflucht?

Dass ein solcher Trend von den jungen Komponisten selber ausgehe, könne man nicht behaupten, meint Mark Sattler, der Dramaturg des Lucerne Festivals. Er hält das Ganze mehr für eine Erscheinung der Zeit. In den Siebziger Jahren etwa krähte kaum ein Hahn nach Gott, Glaube und Religion. Wie in der Politik, so war man auch in der Musik mit 68er-Themen beschäftigt, und die Kirche als Institution genoss einen relativ unangefochtenen Stand. In der globalisierten, individualisierten Welt von heute hingegen, in der maskierte und offene Kultur- und Glaubenskriege toben und laufend an neuen religiösen Feindbildern gearbeitet wird, sind Glaubensfragen längst zum Politikum avanciert. Aus Veranstaltersicht erhöht das die Relevanz der neuen Musik, so sie sich diesen Fragen stellt, nicht unerheblich. Als würden die guten alten Ghettomauern von außen eingerissen.

Aber was hat Komponieren mit Religion überhaupt zu tun? Und was geschieht, wenn man im kreativen Prozess mit einer nicht fassbaren Dimension in Berührung kommt? Ist sie gar ein notwendiger Teil des Arbeitsvorgangs? Unter dem Titel „Komponieren als Dialog mit Gott“ ging unlängst auch das Festival Forum Neuer Musik des Deutschlandfunks in Köln dieser Frage nach. Erfrischend zu sehen, dass dazu nicht die üblichen Verdächtigen, die ewigen Geburtstagskinder und Dauergäste geladen waren, sondern einmal weniger bekannte Komponistengrößen.

So arbeitet der in Berlin lebende, palästinensisch-israelische Komponist Samir Odeh-Tamimi, obwohl selbst nicht praktizierender Muslim, immer unter einer quasi angeborenen Spannung der Glaubenskonflikte seiner Heimat. Seine Musik ist, wie er sagt, von den omnipräsenten Gesängen des Koran und der berauschenden Musik der Suffitradition beeinflusst. Der Franzose Brice Pauset hingegen, dessen Oper „Exercices du Silence“ in der vergangenen Saison auf der Werkstattbühne der Berliner Staatsoper zu sehen war, leiht sich in seinem in Köln uraufgeführten Werk „Autopsie de al foie“ die Worte des früh-aufklärerischen Philosophen Spinoza. Streng analytisch, bis hinein in die Egalisierung der Sprachlaute, setzt der jesuitisch erzogene, deklariert nicht-gläubige Künstler hier Spinozas Postulat einer Freiheit des Individuums und einer Entkoppelung von Glaube und Gehorsam musikalisch um. Eine konsequente Zersetzung der Begriffe, die dem restlichen Festivalprogramm dann den Weg ebnet.

{Schaffen ist Devotion}

Was man schnell begreift: Bei der Frage nach dem Dialog mit Gott geht es gar nicht so sehr um die Inhalte der Werke, die religiös oder nicht-religiös sein mögen. Vielmehr ist es der Akt des Schaffens selbst, der eine religiöse Qualität aufweist. Theologisch gesprochen komme es einer Form von Devotion nahe, erklärt beim Roundtable-Gespräch Pater Friedhelm Mennekes, der Mitbegründer der Kunststation Sankt Peter in Köln: Man sei gewillt, einer Größe zu dienen, obwohl man sie nicht kenne. Mennekes vertritt die Meinung, man sollte die Kirchen – die katholischen zumal – von „atmosphärischen Drogen“ befreien, Bilder gelegentlich verhüllen oder die Klänge der Gewohnheit durch neue ersetzen. Denn nur indem man für Neues Platz macht, kann auch Neues entstehen. Und so wirkt beispielsweise Jörg Herchets atemberaubend schöne Orgelmusik im kargen Raum von Sankt Peter bis ins Körperliche hinein überwältigend.

Die Berliner Komponistin Charlotte Seither bezeichnet den Vorgang des Komponierens ganz abstrakt als „Suchmodus“. Doch auch auf konkreter Ebene offenbart sich beim Forum Neuer Musik ein „Dialog mit Gott“, etwa wenn byzantinisch-orthodoxer Kirchengesang erstmals auf zeitgenössische rumänische Ensemblemusik trifft. Das Nebeneinander dieser Ebenen führt vor Augen, wie entscheidend die geistige Haltung ist – des Komponisten wie des Hörers. Gleicht das Komponieren wirklich einer Form von Devotion, dann kommt man als Hörer mit einer ebenfalls suchenden und empfänglichen Haltung der Essenz des jeweiligen Werks wohl am nächsten.

Auch der Atheist nimmt bei solchen Fragen eine Haltung ein, bewusst oder unbewusst. Ausgerechnet von Hans-Werner Henze – der sich als Atheist bezeichnet und sich musikalisch noch nie mit christlichen Inhalten beschäftigt hat – wird demnächst die Festmusik der Thomaner zu Pfingsten erklingen. Und selbst zwei fundamental unterschiedlich denkende Komponisten wie Klaus Huber und Helmut Lachenmann kommen irgendwann zur selben Aussage: Dass sie sich keine Musik ohne Transzendenz vorstellen können. Ist Neue Musik am Ende eine Art Glaubenssache, ob ihre Schöpfer wollen oder nicht?

In Luzern wiederum ist man mit der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina als composer in residence an eine Künstlerin geraten, die zum Thema eine ganz besondere Affinität aufweist und dieses durch ihr Leben und Schaffen unter einem sozialistischen Regime im wahrsten Wortsinn immer wieder „beglaubigt“ hat. Nötig scheint das nicht unbedingt zu sein. Einen direkten Glaubensbezug brauchen die Menschen oftmals nicht. Gerade das Neue in der Neuen Musik, das Ungewohnte und Fremde, öffnet Räume für Kontemplation und Reflexion – und, wie im Gottesdienst, der Begegnung mit sich selbst.

Ist also der Konzertsaal die neue Kirche und die Kirche der neue Konzertsaal? Und sollten sich die jeweiligen Image- Schäden dabei gegenseitig aufheben? Das wäre gewiss zu hoch gegriffen, doch gilt es durchaus, solche Ansätze zu bedenken. Neue Musik ist kein elitäres Hexenwerk, das nur Eingeweihte verstehen und schätzen können. Und doch wird das oft suggeriert, nicht zuletzt von den Machern selbst. Mit Musikvermittlungsversuchen wird man hier nicht groß weiter- kommen, vielmehr müssen potente Programme her, Stoffe, Themen, die die Menschen etwas angehen. Der Glaube ist dafür ein gutes Beispiel.

Denn es ist nicht die fertige Antwort, sei sie auch noch so richtig, die das Publikum bewegt (wie auch am fraglichen Erfolg des Berliner „Weltethos“ zu erkennen war), sondern das Wälzen fundamentaler Fragen des Seins. Nicht nur die Komposition ist kreativ, sondern Rezeption und Reflektion von Musik sind es auch. In diesem Aspekt liegt ein ungeheures, im guten Sinne zeitgeistiges und noch lange nicht ausgeschöpftes Potenzial, das man niemandem vorenthalten darf.

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