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Kultur: Tritt ins Gesicht

Im Jüdischen Museum erinnern Eisenplatten an die Ermordeten. Eine Überschreitung zum Karfreitag

Das Böse zieht Religionen gerade da in seinen Bann, weil sie es zwar überwinden möchten, sich ihm aber nur unentschlossen aussetzen. Man möchte an ihm schnuppern, aber wundert sich über den genässten Pelz. Wenn wir uns auch nur ein klein wenig einer besseren Welt und der Solidarität mit Leidenden verschrieben haben, dann bleibt die fassungslose Faszination des Bösen nicht aus. Das Böse lässt uns gerade dann nicht mehr los, wenn es uns in seinem Wahnsinn und in einer Nacktheit anfällt, wenn es uns vielleicht die Lösung von Fragen vorgaukelt, die es nicht zu lösen, sondern nur noch zu bestehen gilt. Wer sich auf die Welt, auf Mitmenschen, auf politische Veränderungen, auf eine bessere Zukunft einlässt, verstrickt sich in das Böse, ob wir es wollen oder nicht.

Im Jüdischen Museum Berlin ist eine Installation des jüdischen Künstlers Meneshe Kadishman zu sehen, der – ursprünglich Hirte in Israel – wegen seiner elementaren Eisenplastiken (etwa von Schafen und Eseln) bekannt ist. Die Arbeit im Jüdischen Museum trägt den Titel „Shalechet“, offiziell übersetzt mit „gefallenes Laub/fallen leaves“. Wenn ich mein hebräisches Lexikon richtig entziffere, verweisen die drei Kernkonsonanten sh-l-ch auf: wegwerfen, hinwerfen, verstoßen, einen Baum fällen. Diese Kurzbeschreibung der Installation spricht von unser aller Schicksal, von einer allgemein menschlichen Verfassung. Sie bezeichnet nicht allein die ermordeten Juden, sondern auch die ungezählten Millionen anderer Ermordeter und Vernichteter – all jene, denen ihr Leben entglitten ist, denen man es genommen hat. So liegen sie am Boden wie vermoderndes Laub.

Das Jüdische Museum kennt neben dem „Holocaust-Turm“ einen zweiten – nackten, dunklen, nahezu abgeschlossenen – Raum, der alle Besucher zu innerer Beklemmung und Ruhe bringt. Mit seinen kahlen Betonwänden und seinem Lichtschacht besteht er aus nichts anderem als seiner eigenen Beengung, Leere und Düsternis. Er trägt den Namen „Memory of the Void“. Es ist ja ein Abwesendes, ein absolut Entkräftetes und Entferntes, ein Nichts, dessen wir da gedenken. Denn nichts blieb und nichts bleibt von den Ermordeten übrig als die Leere: keine Überreste, kein kleiner Stein, der an den Grabbesuch erinnert, geschweige denn ein Grabmal, oft nicht einmal Angehörige oder die Erinnerung an den Namen.

Der Boden dieses Raumes der Leere ist belegt mit ungezählten runden und angerosteten Eisenplatten, die wie hingeworfen über- und durcheinander liegen. Die Platten sind verschieden dick, oval oder rund, mit dem Durchmesser menschlicher Antlitze, von Kindern, Männern, Frauen. Aus diesen Kopfsilhouetten sind – in verschiedenen, oft unregelmäßigen und ungelenken, etwas verzerrenden Konturen – jeweils die Augen, die Nase und ein aufgerissener Mund herausgesägt.

Wir Besucher werden aufgefordert, mit unseren Straßenschuhen über diese Gesichter hinwegzugehen, auf sie zu treten. Nach anfänglichem Zögern entschließen sich viele zu diesem Gang, sichtlich erschrocken über sich selbst. Wir treten Menschen ins Gesicht. Die Platten, die übereinander auf dem Boden liegen, reagieren wie gefallenes Laub. Aber statt eines Knisterns oder eines weichen, vermodernden Untergrunds, das ein neutral erhebendes Zeichen für das Kommen und Gehen der Natur wäre, begegnen uns Widerstand und widerwillige Bewegung. Mal schiebt sich ein Gesicht zur Seite und gibt ein anderes frei, mal knickt es ab oder es bleibt unbewegt liegen. In diesem „Laub“ entsteht ein kräftiges Knirschen, Klappern, helles Klingen, das im hohen Betonraum widerhallt. Wenn mehrere Menschen darüber hingehen, entsteht ein unbarmherziger Lärm. Der schlimmste Augenblick stellt sich am Ende ein. Voller Hemmung habe ich die Gesichter überschritten und mich in die Kolonne der Zertreter eingereiht. Wie aber komme ich aus diesem Schrecken heraus? Wer den Weg der Vernichtung angetreten hat, muss ihn auch vollenden.

Spiegelt sich hier das Schicksal von uns allen, da wir alle –wenigstens mit unserem Tod – gefallenes Laub sind, das getreten wird? Vorsicht ist geboten. Die ich hier liegen sehe, wurden alle getreten, gefällt und weggeworfen, als sie noch lebten; es ging um mehr als den Gang der Natur. Sie, die hier liegen, kamen durch die Tritte der Anderen zu Tode, seelisch und im Übermaß auch körperlich, wie man es nimmt. Dieses Schicksal trifft zwar Abermillionen, aber es ist nicht so allgemein, dass es uns ohne menschliches Zutun überkommt. Auch wenn wir alle verletzlich und am Ende hilflos, alt, krank und sterblich sind, so geht es hier doch um das Entsetzliche, das Menschen über Menschen bringen. Wir alle, die wir auf der Lichtseite unserer Welt und ihrer Gesellschaften stehen, treten mit, natürlich nicht so offenkundig, wie es die Schergen der Konzentrationslager oder die Reiterkolonnen in Darfur tun, aber verborgen, in den feinsten Mechanismen von Tun und Lassen.

In wenigen Tagen begehen wir den Karfreitag dieses Jahres. Zum Gedenken und zum Bedenken stehen wie jedes Jahr an: gefallenes Laub, die Verstoßung von Ungeliebten, das Fällen eines Baumes, die Verletzlichkeit aller Menschen, aber auch ein exemplarischer Mord zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung im Vorderen Orient, schon vor 2000 Jahren. Wie, wenn es in unseren Kirchen einmal statt einer gekonnten Karfreitagspredigt eine solche Installation und ein solches Ritual gäbe – mit schmerzlichem Schweigen und Aushalten, ohne Worte und Erklärungen, im Bewusstsein der eigenen Verstrickung – ein Ritual also, das mit seiner seelischen Bedrückung wenigstens bis Ostern anhielte?

Jesus, ist er nicht ein stummer Schrei, eine verzerrte Eisenmaske unter den Millionen, die seine Schwestern und Brüder sind und deren Bruder er ist? Als Jude hat er Millionen von Blutsverwandten, die in unserer Geschichte genau sein Schicksal übernehmen mussten. Die Umkehrung unseres Jesusbildes vom König und Messias zum Verfluchten, also die Umkehrung unserer Jesusverehrung von der Anbetung zum unvermeidlichen Mitleiden, könnte dazu verhelfen, die christliche Lebenspraxis aus ihrer modern-postmodernen Lethargie zu holen. Unsere Kirchen haben diese Botschaft der Schuldverstrickung immer noch nicht verstanden, deshalb wirkt unser Ostern in vielen Gemeinden wie das Burn-out-Syndrom von Übermüdeten. Deutschland, dessen Meister vor kurzem noch der Tod war, gewinnt seine christliche Identität nur zurück, wenn wir es lernen, uns dem quälenden Gang über gefallenes Menschenlaub auszusetzen, ihn als unverzichtbare Anti-Dimension unseres Glaubens einzuüben. Erst dann wird wieder Ostern gelingen.

Der Autor, Jahrgang 1937, lehrt Theologie an der Universität Nijmwegen.

Hermann Häring

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