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Kultur: Tropfsteinhöhle des Vergessens

Seit zehn Jahren steht die ehemalige Jüdische Mädchenschule leer. Für die Berlin Biennale öffnet sie ihre Tore

„Wir schreiben das Jahr 1979“, sagt der Vorspann. Die Kamera fliegt über Dächer, stößt über S-Bahnen, die Spree, den Hackeschen Markt hinab zur Auguststraße. Rennende Kinder. Hinterhöfe. Dazu scharfer Fanfaren-Sound von Hanns Eisler, anachronistisch-pathetisch, als werde hier Menschheitsgeschichte verhandelt. Poröse Fassaden. Rasende Radfahrer. Die Bertolt-Brecht-Schule. Klassenräume. Ein bärtiger Lehrer. Arbeiterkinder. Die Elfjährigen sollen Streiten lernen, Verantwortung übernehmen. Man tanzt Rock’n’Roll, der Pädagoge hilft beim Überschlag. Das Kollektiv schließt eine schluchzende Schülerin von der Kabarett-AG aus. Eine andere wünscht sich, vom Filmemacher befragt: ein normaler Mensch zu werden.

Wir schreiben das Jahr 2006. Wie damals für Günter Jordans Dokumentarfilm „Berlin Auguststraße“ soll das fünfgeschossige Schulhaus ab dem 25. März wieder Schauplatz eines Kunstprojektes werden – für die 4. Berlin Biennale. Seit zehn Jahren steht das Baudenkmal leer: ein moderner Solitär von 1927/28, einzigartig im Quartier. Die rotbraune Fassade, mit dunklen Eisenklinkern verblendet, verbindet expressionistische Elemente und Neue Sachlichkeit. Nur der dreifenstrige Turmanbau schließt bündig zum spätklassizistischen Nachbarhaus von 1861 auf, dem vormaligen Verwaltungsbau des Jüdischen Krankenhauses, der Haupttrakt des L-förmigen Schulkomplexes wurde, zur besseren Einfügung in die Straßenflucht, leicht zurückversetzt. Das massige Haus wirkt von außen nüchtern, elegant.

Drinnen, in der Tropfsteinhöhle des Vergessens, blättern Putzfetzen von der Decke. Im Aufgang ein Bild des Hauspatrons Brecht. Neonröhren. Skizzen von Galileis und Keplers Sonnensystem am Physikraum, Fotos von Einstein und Kollegen. Graffiti am Aufzug. Ein zerrissenes Plakat: „Traum + Trauma der deutschen Luftfahrt“. Notausgangssignale, frisch montiert. Putzfrauen. Künstler beim Installieren ihrer Werke. Oben der Blick über die Dächer bis zur Sophienkirche. Insgesamt 14 Klassenräume, Zeichensaal, Handarbeits-, Physik- und Lehrerzimmer, Waschräume. 2000 Quadratmeter. Im Korridor am Hofausgang Bodenmosaike. Grüne Wandkacheln. Ein Glasmosaik der Elemente und Gestirne: die Entstehung der Welt. Überm Türsturz ist das Kunstwerk zerstört und nur grob repariert. An der Hofmauer steht weiß getüncht: „Mit der Jugend der Welt für Frieden, Freiheit und Fortschritt“.

Im Hof Efeu. Kahle Eichen. Spielgerät. Verrottete Bänke. Die Ziegelbauten des ehemaligen Jüdischen Krankenhauses, verbunden durch eine Seufzerbrücke. Eine Gedenktafel. Security-Kameras. Eine Mauer trennt das Areal dieser ungenutzten Häuser – Auguststraße 11-13 (Schule) samt 14-16 (ehemals Krankenhaus) – vom Garten des St. Hedwig-Hospitals an der Großen Hamburger Straße. Ein Gittertor führt zur Rückseite der goldüberkuppelten Neuen Synagoge, neben der postmoderne Glastürmchen einer Turnhalle für das Jüdischen Gymnasium emporragen.

Vorgeschichten zur Nutzungshistorie dieses weitläufigen Ensembles gehen zurück bis ins 18. Jahrhundert, zu den Erziehungs-und Humanitäts-Idealen der Jüdischen Aufklärung. 1835 wird neben der Alten Synagoge, Heidereutergasse, die erste Mädchenschule der Jüdischen Gemeinde gegründet. In den 1850er Jahren erwirbt man ein großes Terrain an der Auguststraße für einen Krankenhausbau. Die Parzelle 11-13 nutzt man als Garten und für „Pneumatische Kabinette“ zur Untersuchung der Atemwege. 1914 zieht das Jüdische Krankenhaus in den Wedding. Die Gebäude 14-16 beherbergen zunächst Flüchtlingskinder und ab 1920 das Kinderheim „Ahawah“ (=Liebe). Ende der zwanziger Jahre erhält die expandierende Mädchenschule mit dem Neubau des Gemeindearchitekten Alexander Beer in der Auguststraße 11-13 ein stattliches Domizil. 1931 wird sie mit der Jüdischen Knabenschule an der Großen Hamburger Straße zusammengelegt. Beers großzügigen Bau, wo man statt auf Bänken auf Stühlen sitzt, wo Schränke Schiebetüren haben und Kinder auf dem Dachgarten einen Ort zur Frischluft-Siesta, bezieht die 1927 gegründete Private Mädchen-Volksschule der Jüdischen Gemeinde.

Zur Geschichte dieser Schule gehört die Direktorin Johanna Kaphan, selbst im Heim aufgewachsen: eine leidenschaftliche, preußisch-strenge Pädagogin mit einem Faible für schicke Mode. Ihr prominenter Mentor und Geliebter ist der Schuldirektor i.R. Meier Spanier, dessen Begeisterung für die Veredelung jüdischer Unterschicht-Kinder sie übernimmt. Nach 1933 steigt die Zahl der Schülerinnen von 300 auf knapp tausend. 1939 emigriert Johanna Kaphan nach Stockholm, wo sie für 20 ihrer Berliner Mädchen ein Wohnheim leiten wird.

1942 werden alle jüdischen Schulen geschlossen. Vor seiner Deportation nimmt sich der 78-jährige Meier Spanier mit seiner Ehefrau das Leben. 1944 stirbt der 73-jährige Alexander Beer im KZ Theresienstadt. In die Ahawah-Häuser kommt ein jüdisches Siechenheim, dann eine Sammelstelle für Deportationen. Im Schulgebäude richten katholische Hospital-Schwestern nach dem Überfall auf die UdSSR ein Lazarett ein. Wenn sie durch einen Mauerdurchbruch über den Hof zu diesem „Franziskushaus“ gehen, sehen die Schwestern in Kellerfenstern der überfüllten Nachbargebäude 14-16 zusammengepferchte Menschen und notieren LKW-Nummern abgehender Transporte. Ab 1943 wird der nunmehr „judenreine“ Ahawah-Komplex von der Hitlerjugend genutzt. Im Frühjahr 1945 nehmen sich die Schwestern der Hitlerjungen an, die noch an die Front gejagt wurden. Sie ziehen die panischen, voll geschissener Deserteure aus, verbinden sie wie Schweroperierte, verbrennen ihre Uniformen im Heizungskeller, vergraben ihre Waffen auf dem Schulgelände.

Zum Herbst 1945 werden in der Auguststraße 13-16 ausgebombte Gymnasien einquartiert. So ruiniert wie dieses demolierte Gebäude sei auch Deutschlands Jugend nach zwölf Jahren Not, sagt Schulrat Göttge. Kein Wort zur jüdischen Schule. Wann immer hier in den Folgejahren emigrierte Schülerinnen oder die Ex-Direktorin Kaphan um Einlass bitten werden, verweigern Hausmeister ihnen als „Ausländerinnen“ den Zutritt. Mit den Weltjugendfestspielen 1951 kommen Quartiersgäste, begleitet von einer weiß getünchten Friedens-Freiheits-Fortschritts-Parole an der Hofmauer. Noch bis zur Mitte des Jahrzehnts liegen auf dem Gelände rostende Käfige herum, die in den Kellern der Synagoge zur Einschließung straffälliger Zwangsarbeiter und Juden genutzt worden waren.

Zur Geschichte der Brecht-Schule, die diesen Namen seit den fünfziger Jahren trägt, gehört auch der pädagogische Regisseur Günter Jordan. Mit der Frage „Wie soll der Mensch sein?“ hatte er seinerzeit „Berlin Auguststraße“ kommentiert. Das „Lebensgefühl selbstbewusster Bürger“ wolle er einfangen und herausfinden, wie ein Kind es schaffe, „sich in die Gemeinschaft zu integrieren, ohne sich zu verletzen oder verletzt zu werden“. Doch die Überlieferung der älteren Gebäudegeschichte ist Regina Scheer zu verdanken, selbst Schülerin der Brecht-Schule in den sechziger Jahren. Sie fing an, Zeugnisse greiser Nonnen aus dem Hedwigs-Hospital festzuhalten, dem Schicksal der Erzieherinnen in Nr. 11 bis 16 und der Gründung eines Nachfolgeinstituts „Neve Hanna“ in Israel nachzugehen. Zwei Bücher sind aus Untersuchungen des vielschichtigen Ortes entstanden. „Die Erde ist eine dünne Kruste; ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist“, zitiert die Theaterwissenschaftlerin „Dantons Tod“ von Georg Büchner. „Man muss mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen.“

Wegen Schülermangels in Mitte wird die Brecht-Schule 1996 geschlossen. Das Areal an der Auguststraße war nach 1989 an die Jüdische Gemeinde restituiert worden, der es schwer fällt, ein Nutzungskonzept zu finden und die Instandsetzung zu finanzieren. Derzeit tendiert man dazu, im kommenden Herbst Theaterleute aus der Gemeinde die Turnhalle bespielen, eine Hannah-Arendt-Ausstellung gastieren zu lassen. Anderen Plänen wie der Einmietung einer Privatschule oder der Zusammenfassung aller jüdischen Schulen Berlins an diesem Ort werden wenig Chancen eingeräumt.

Doch an die Biennale-Ausstellung „Von Mäusen und Menschen“ wurde vermietet. Bei der Erstbegehung habe er den Eindruck gehabt, das Haus sei eben erst verlassen worden, sagt der Kurator Massimiliano Gioni: gefrorene Zeit. Man bemühe sich hier, „Spuren des Lebens“ nicht zu beseitigen und doch Zeitgenössisches zu präsentieren. Die Mädchenschule sei selbst ein Museum, ein Monolith, ein mysteriöses Objekt. Sie rieche noch nach DDR. Beim Stichwort Schule assoziiere man Kindheit und Erinnerung. Das Haus sei eine Zeitkapsel, die durch Kunst geöffnet werden könne. In der Kapsel schieben sich die Bilder vom idealistischen Aufbruch der Moderne, von Menschenvernichtung und pragmatischer Amnesie übereinander. Dieses Haus ist ein Denkmal für den ganz normalen Menschen.

Die ehemalige Jüdische Mädchenschule, Auguststr. 11–13, ist im Rahmen der 4. Berlin Biennale von Samstag an bis zum 28. Mai zugänglich, Di–So 12–19, Do 12–21 Uhr.

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