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Kultur: "Trug": Doppelgänger zweier Welten - Klaus Schlesinger entlarvt die Wirklichkeit des geteilten Berlin

Als der Düsseldorfer Immobilienmakler Strehlow an einem Mittwochvormittag Mitte der achtziger Jahre mit dem Flugzeug in Berlin-Tegel landet, ist er dabei, "das Geschäft seines Leben" zu machen. Um vierzehn Uhr ist er im Süden Westberlins in Alt-Mariendorf verabredet, in der Innentasche seines Jacketts 50 000 Mark Schmiergeld.

Als der Düsseldorfer Immobilienmakler Strehlow an einem Mittwochvormittag Mitte der achtziger Jahre mit dem Flugzeug in Berlin-Tegel landet, ist er dabei, "das Geschäft seines Leben" zu machen. Um vierzehn Uhr ist er im Süden Westberlins in Alt-Mariendorf verabredet, in der Innentasche seines Jacketts 50 000 Mark Schmiergeld. Statt eines Taxi aber nimmt er die U-Bahn, die freilich Ostberlin durchfährt und die ebendort auf dem Bahnhof Friedrichstraße infolge einer Betriebsstörung hält. Auf der Suche nach einem Telefon unterzieht er sich der Einreise-Prozedur; dann trifft er im Cafe Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden auf einen Mann namens Skolud, der ihm verblüffend ähnlich sieht. Ein Doppelgänger?

Klaus Schlesinger variiert originell das alte Motiv vom Doppelgänger, das sich durch die Literaturen zieht: von E. T. A. Hoffmann über Poe bis zu Dostojewskis erstem Roman "Der Doppelgänger". An drei Tagen begegnet und erfährt Strehlow in Ostberlin Außerordentliches: Skolud ist ihm nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, er hat auch, stellt sich bei ihren Begegnungen im Cafe "Espresso" heraus, wie er beim selben Professor zur gleichen Zeit Architektur studiert, und er hat auch jene Adresse, die vor zweiundzwanzig Jahren, 1962, die seine war: Rykestraße, Prenzlauer Berg. Von hier aus war Strehlow, versteckt im Kofferraum eines Diplomatenwagens, aus Ostberlin in den Westen geflohen.

Systeme prägen die Lebenseinstellung

Dialogsicher und spannend erzählt Klaus Schlesinger am Beispiel von Strehlow und Skolund vom westlichen und östlichen Lebensentwurf. Zwar sprechen Skolund und Strehlow die gleiche Sprache, verstehen aber nicht immer einander, wenn sie diesebelben Worte benutzen. Geld etwa hat für sie verschiedene Bedeutung. Für Skolund ist es ein "nebensächliches Ding", für Strehlow dagegen Lebensinhalt; der Gedanke an die bei dem Immobilien-Deal zu erwartende Rendite verschafft ihm ein "Hochgefühl", "ein Gefühl tiefer Befriedigung". Schlesinger lässt Skolund mit den Worten kontern: "Man muss doch verblöden, wenn man tagtäglich mit der Überlegung beschäftigt ist, aus einer Mark zwei zu machen. Und darum geht es doch bei Ihnen drüben, oder?"

Schlesinger verteilt im Vergleich der Systeme ironische Spitzen nach beiden Seiten. Er stellt aber auch der eindimensional-glatten, von Geld geführten Karriere des Westlers im seines Selbst sicheren Skolund eine DDR-Biografie gegenüber, die keinen Anlass zu Minderwertigkeitsgefühlen bietet, im Gegenteil. Einander im Cafe "Espresso" ihre Geschichten erzählend, berichtet Skolund, wie er als junger aufstrebender Architekt in der thüringischen Kleinstadt Bergroda im "Kollektiv Neues Bauen" ein neues Wohngebiet mitgeplant und im Modell aufgebaut habe. Doch da habe "der Erste Mann", Walter Ulbricht, zufällig zu Besuch, eigenhändig Veränderungen vorgenommen und unversehens das Kulturzentrum in die optische Mitte des Modells plaziert. Da diese Änderung aber die ganze Planung und Kalkulation zerstört hätte, habe er sie korrigiert, was wiederum der "spitzbärtige Staatsmann" bei einem erneuten Besuch bemerkt habe. Ergebnis: Entlassung. Seither: Gelegenheitsarbeiten als Heizer und Komparse. Skolud "verkauft" weder sich und seine Gesinnung noch kriecht er zu Kreuze. Und selbst als der von ihm direkt angesprochene Honecker ihn rehabilitieren und ihm einen Karriereposten anbieten lässt, nimmt er nicht an - zur Verblüffung Strehlows, der gewohnt ist, den geringsten Vorteil wahrzunehmen, der sich ihm bietet. Soll sich der DDRler, fragt Schlesinger zwischen den Zeilen, etwa dieses Lebenslaufes schämen? Und auch kulturell muss er sich nicht verstecken: Ein ausgelesenes Exemplar von Walt Whitmans "Grashalmen", die Strehlow vergeblich in einer Buchhandlung in Westberlin zu kaufen sucht, befindet sich in Skolunds Wohnung in der Rykestraße.

Hier in der Rykestraße löst Klaus Schlesinger seine Doppelgänger-Geschichte auf überraschende Weise auf: Die Wirklichkeit des geteilten Berlin holt die Fantastik ein; das Surreale findet im geteilten Berlin einen gewöhnlichen Grund. Schlesinger, der 1980 mit einem Auslandsvisum vom Prenzlauerberg nach Charlottenburg zog und nach der Wende sich in Mitte ansiedelte, kennt beide Hälften Berlins, beide Mentalitäten. Die Details und Episoden sind ihm vertraut: die nach Urin riechende Telefonzelle in Charlottenburg und die politbüro-gleiche Allmacht der Kellner im Ostteil. Mit leichter Hand trifft er Verhaltensweisen und Sprachtöne in Ost wie West, übersetzt er die genau beobachtete Körpersprache und Mimik. Hektik, Schnelligkeit und "Beweglichkeit" sowie "Unter-der-Hand-Zahlung" im Westen; "geringer materieller Aufwand" bei der "Reproduktion" des Lebens, Passivität, "Fatalismus", aber auch Selbstgewißheit im Osten. Schlesinger erzählt in seinem Roman "Trug" im Gleichnis des Doppelgänger-Motivs hintersinnig und kurzweilig davon, wie nur zwei Jahrzehnte, in gegensätzlichen Gesellschaftssystemen gelebt, unterschiedliche Sehweisen und Eigenschaften befördern.

Stephan Reinhardt

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