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Im Spiegel der Fluten. Das Wahrzeichen von St. Louis, der Gateway Arch, umgeben vom Rekordhochwasser des Mississippi im Dezember 2015.

© imago/UPI Photo

Trump und die Folgen: Aus der Mitte des Landes

Nach der Präsidentschaftswahl in den USA: eine Momentaufnahme aus dem traditionell republikanischen St. Louis im Bundesstaat Missouri.

St. Louis liegt dort, wo der Missouri in den Mississippi fließt. Kein Wunder, dass sich hier vor tausend Jahren die größte indianische Stadt auf dem nordamerikanischen Kontinent entwickelte. Günstigere natürliche Verkehrsbedingungen als zwei riesige Ströme mit mächtigen Nebenflüssen, die aus allen Richtungen kommen, konnte es nicht geben. Im 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung erreichte die Stadt ihren wirtschaftlichen und kulturellen Höhepunkt. Sie war ähnlich angelegt und befestigt wie eine mittelalterliche Stadt in Europa: mit Tempeln und Märkten im Zentrum, mit einem astronomischen Observatorium, mit Handwerksbetrieben sowie Wohnhäusern, und auch die Stadtmauer fehlte nicht. Voraussetzung war eine funktionierende Landwirtschaft extra muros. Die Frage, warum die Bewohner die Gegend vor etwa sechshundert Jahren verließen, hat die Wissenschaft noch nicht beantworten können.

Die Gründe, warum die Einwohner des neuen St. Louis die Stadt verlassen, sind bekannter: Sie haben mit sozialen Konflikten zwischen Arm und Reich, zwischen Schwarzen und Weißen zu tun, aber auch mit den Auswirkungen der globalisierten Wirtschaft. Französische Siedler zogen 1764 an diesen Zusammenfluss der beiden großen Ströme, um ebenfalls die vorteilhafte Transportsituation auszunützen. In den ersten 50 Jahren stand der Pelzhandel im Mittelpunkt, dann aber auch die Verarbeitung und der Vertrieb landwirtschaftlicher Produkte. In der Zeit um 1900 erreichte die Stadt ihren erneuten Zenit. Es gab kaum eine Industrie, die nicht in St. Louis vertreten war. Damals war diese Metropole des Mittleren Westens die viertreichste Stadt der USA, und es überraschte niemanden, dass hier 1904 eine Weltausstellung stattfand, die zu den aufsehenerregendsten in der Geschichte der Expos gehört.

Inzwischen geht es der Stadt längst nicht mehr so gut. Die Zahl der Einwohner ist seit 1904 um die Hälfte auf etwa 300.000 geschrumpft. Wie kommt es, dass man in den aktuellen Statistiken liest, St. Louis als „Metropolitan Area“ habe etwa zweieinhalb Millionen Einwohner? Es ist eine geteilte Stadt: St. Louis City im alten Sinne besteht nach wie vor in den Grenzen aus der Zeit der Weltausstellung. Aber jenseits dieser Peripherie hat sich im Lauf eines Jahrhunderts im  Westen die sogenannte St. Louis County entwickelt. Es ist ein Phänomen, das repräsentativ für Amerika ist, denn die „inner cities“ verarmen auch anderswo, und die Vorstädte werden reicher. Dabei fällt auf, dass der Anteil der Afro-Amerikaner innerhalb der City unverhältnismäßig größer ist als außerhalb. Jonathan Franzen, der aus St. Louis County stammt, hat seinen ersten Roman über die City von St. Louis geschrieben: eine Dystopie mit dem Titel „The Twenty-Seventh City“.

Ein Campus außerhalb der City

1853 hatte William Greenleaf Eliot, der Großvater des Literatur-Nobelpreisträgers T.S. Eliot, in St. Louis die Washington University gegründet. Es ist eine private Universität, die heute in der Rangliste der U.S.-Universitäten an 15. Stelle steht. Im „Shanghai Ranking“ behauptet sie seit Jahren den Platz zwischen 30 und 35, liegt also im globalen Gerangel um die ersten fünfzig Plätze vor den besten deutschen Universitäten. 1903, zum 50. Geburtstag, leistete die Universität sich einen neuen Campus – bezeichnenderweise außerhalb der Stadtgrenzen der City. An dieser Universität haben in den letzten zwanzig Jahren mehrfach die Debatten zwischen Präsidentschaftskandidaten stattgefunden, so auch 2016.

Bei all den sozialen und wirtschaftlichen Problemen, die St. Louis hat, bemüht man sich traditionsgemäß um Höflichkeit und Gastfreundschaft. Schließlich lebt man in dem Staat, der durch die Literatur ihres berühmten Sohnes Mark Twain in die Zivilisationsgeschichte eingegangen ist. Der Grundsatz des freundlichen Umgangs miteinander gilt auch an der Washington University. Was aber war von einer Debatte zwischen zwei Gegnern zu erwarten, die sich seit Monaten  Schlammschlachten lieferten, wie sie seit über hundert Jahren nicht mehr in den Annalen des amerikanischen Wahlkampfs verzeichnet worden sind. (Im 19. Jahrhundert ging es übrigens oft vergleichbar ruppig zu). Dabei muss man zugeben, dass Hillary Clinton bei den Beleidigungen, Drohungen und Unterstellungen aus dem Trump-Lager wenig anderes übrig blieb, als vergleichbar giftige Pfeile auf den Konkurrenten abzuschießen. Es war die zweite Debatte im diesjährigen Wahlkampf, die an der Washington University stattfand.

Gegen Ende der Veranstaltung wurden die beiden Opponenten gebeten wurden, etwas Positives übereinander zu sagen. In New York oder Los Angeles hätte wohl niemand einen ähnlichen Appell formuliert. Beide Gegner waren perplex, denn eine solche Frage hatte man mit den Beratern nicht erörtert. Hillary Clinton antwortete zuerst und sagte freundliche Dinge über die Kinder von Donald Trump, deutete sogar an, dass der gut geratene Nachwuchs kein schlechtes Licht auf den Erzeuger werfe. Trump sah man an, dass es ihm nicht leicht fiel, mit einer Formulierung aufzuwarten, die nicht erneut herabsetzend wirken würde. Also lobte er das Durchhaltevermögen der Senatorin, die Tatsache, dass sie nicht aufgebe, wenn der Widerstand andere zermürben würde. Damit stellte er eine Eigenschaft an ihr heraus, die er bekanntlich für seine primäre sekundäre Tugend hält, gab also zu, dass sie einen Charakterzug teilen.

Wo waren die Plakate für Clinton und Trump?

Im Spiegel der Fluten. Das Wahrzeichen von St. Louis, der Gateway Arch, umgeben vom Rekordhochwasser des Mississippi im Dezember 2015.
Im Spiegel der Fluten. Das Wahrzeichen von St. Louis, der Gateway Arch, umgeben vom Rekordhochwasser des Mississippi im Dezember 2015.

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In den Wochen vor der Wahl fiel überall in St. Louis (ob City oder County) auf, dass in den Vorgärten der Wohnhäuser die üblichen Werbeschilder für die Kandidatin und den Kandidaten fehlten. Früher war fast jeder Vorgarten mit solchen schlicht-eindeutigen Zeichen politischer Orientierung versehen. Das Gleiche gilt für die Aufkleber (die „bumper stickers“), mit denen man in der Vergangenheit die Stoßstangen der Autos bekenntnisfreudig verunzierte. An der ganzen Universität sah man nur an einem Verbindungshaus („Fraternity House“) ein Wahlplakat. Was sind die Gründe dafür? Vielleicht lässt sich die Situation so erklären: Zwar würde man den Vertreter bzw. die Vertreterin jener Partei wählen, der man schon immer seine Stimme gegeben hat, aber zur Identifikation mit Kandidat und Kandidatin reichte es diesmal nicht. Wahrscheinlich scheute man sich in diesem Wahlkampf jenseits der Normen, eine Sympathie für Trump oder Clinton offen zu signalisieren. Kein Wunder auch, dass sich die Umfrage-Ergebnisse als falsch erwiesen, denn viele, die sich entschieden hatten, für Trump zu stimmen, wollten sich öffentlich nicht zu ihm bekennen. An dem erwähnten „Fraternity House“ dokumentierte sich hingegen die Parteinahme in einem Plakat, auf dem „Donald Trump for President“ stand, gepaart mit einem Poster, das aggressiv „Hillary Clinton for Prison“ forderte. Schon übel, dass diese Hass-Parole auch von einigen Studenten übernommen worden ist.

Bei Lokalwahlen in den USA kann man zu irgendeiner Tageszeit an die Urnen eilen und ist rasch mit dem Abhaken der Favoriten auf den Zetteln oder im Computer fertig. Die Beteiligung ist gering und die freundlichen Helfer (meistens ältere Damen und Herren im Pensionsalter) schlafen fast ein vor Langeweile, freuen sich über jeden, der vorbeischaut und ein paar Worte mit ihnen wechselt, bevor er das Kreuzchen an der richtig erscheinenden Stelle für den neuen Bürgermeister macht. Das ist bei den Präsidentschaftswahlen anders. Am besten man geht gleich morgens um halb sechs zur Halle, in der alles für die Wahl im Wohnbezirk vorbereitet ist, reiht sich ein in die Schlange, die sich schon ab fünf Uhr gebildet hat. Der Bezirk, in dem man wohnt, gehört zu St. Louis County und heißt University City. Dort – wo auch die Washington University angesiedelt ist – gibt es einen Stadtteil, in dem Schwarze und Weiße nebeneinander wohnen und gut miteinander auskommen. Das hat in den USA Seltenheitswert.

Kein Wort über die Politik

Da steht man nun vor dem Community Center im leichten Regen, es ist noch dunkel, winkt dem afroamerikanischen Ehepaar zu,  die ihr Haus in der gleichen Straße haben. Man bietet dem unmittelbaren Nachbarn an, den Schirm mit ihm zu teilen und unterhält sich ein wenig mit den Leuten um einen herum, die man persönlich nicht kennt. Man redet über das Wetter, die Kinder, die Enkel, über die Studiengebühren fürs College, die Reparaturen am Haus: nur über Hillary Clinton und Donald Trump verliert man kein Wort – besser nicht, denn das Gebot der Höflichkeit ist eines der Klugheit gerade in diesem Jahr. Schließlich will man nicht wie die Präsidentschaftskandidaten selbst aus der Rolle fallen. Von Aufregung also keine Spur. Inzwischen hat es zu regnen aufgehört und man erreicht die Tür des Wahllokals. Da entdeckt man zwei Plakate, die in Bild und Wort unmissverständlich darauf hinweisen, dass hier niemand mit Schusswaffen eintreten darf. Wär doch gut, wenn solche Regeln immer und überall in den USA gelten würden. Ein Traum, den Donald Trump bestimmt nicht erfüllen wird. Vielleicht steht dort in vier Jahren „Waffenträger willkommen“.

Übrigens musste man sich bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr nicht unbedingt für Hillary Clinton oder Donald Trump (mit ihren jeweiligen Vizepräsidenten) entscheiden. Man konnte auch Gary Johnson von der Libertarian Party, Darrell L. Castle von der Constitution Party oder Jill Stein von der Green Party wählen (lauter unbekannte Größen). Ja man darf sogar in einem dafür vorgesehenen leeren Feld selbst jemanden nominieren und ihm seine Stimme geben. Der eine oder andere Witzbold, der sich für geeigneter als die Politiker hält, setzt dann seinen eigenen Namen ein und kann beim Thanksgiving Dinner berichten, dass er Kandidat für das höchste Amt im Land gewesen ist. Zudem fängt nach der vollzogenen Wahl des Staatsoberhauptes die eigentliche Arbeit am Wahlzettel erst an, denn der Einzelstaat, in dem man lebt, hier also Missouri, erwartet, dass man sein Ja oder Nein auch bei ihren Kandidaten und Kandidatinnen markiert: bei jenen Leuten, die einen Sitz im Senat und im Repräsentantenhaus in Washington anstreben oder die Gouverneur von Missouri werden möchten. Dann geht es weiter mit den innerstaatlichen Posten, die zu vergeben sind wie Lieutenant Governor, State Treasurer, State Senator und jede Menge an State Representatives sowie zahllose Bezirksrichter.

Damit ist der demokratischen Pflicht aber immer noch nicht Genüge getan, denn der Einzelstaat will von den Wählern auch eine Antwort auf viele Änderungsvorschläge („propositions“) haben, die meistens mit Zusätzen in der Verfassung, mit Änderungen im Wahlverfahren oder mit Steuererhöhungen zu tun haben. Da muss man sich vor der Wahl gut vorbereitet haben, denn zu jeder der Vorschläge gibt es einen Text, der für den juristisch nicht versierten Wähler oft schwer verständlich ist. Es hilft, sich mit Freunden, die etwas von  der Politik des Einzelstaates verstehen, in den Tagen vor der Wahl zu beraten, sonst braucht man für die Entscheidung an der Urne zu viel Zeit oder unterstützt eine Aktion, über deren Auswirkungen man sich nicht im Klaren ist.

Nur in University City hat man immer demokratisch gewählt

Im Spiegel der Fluten. Das Wahrzeichen von St. Louis, der Gateway Arch, umgeben vom Rekordhochwasser des Mississippi im Dezember 2015.
Im Spiegel der Fluten. Das Wahrzeichen von St. Louis, der Gateway Arch, umgeben vom Rekordhochwasser des Mississippi im Dezember 2015.

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In University City hat man schon immer demokratisch gewählt, und daran hat sich auch in diesem Jahr nichts geändert. Aber University City ist nicht repräsentativ für den Staat Missouri, in dem der republikanische Kandidat seit den 1960er Jahren immer einen Vorsprung vor dem demokratischen hat. Mit Missouri konnte Trump also rechnen. Bei anderen Staaten des Mittleren Westens wie Ohio, Michigan und Wisconsin ist das anders, aber auch dort hat man sich mehrheitlich für ihn entschieden. Der Hauptgrund dafür ist wohl, dass ein Großteil der amerikanischen (vor allem weißen) „middle class“ sich vom Abstieg bedroht fühlt. Die Familien der jetzt vierzigjährigen Frauen und Männer erinnern sich an den großelterlichen Wohlstand, der durch bloß ein Gehalt garantiert wurde. Auch die Eltern – inzwischen verdienten Mann und Frau – sorgten mit dem doppelten Einkommen dafür, dass ihre Kinder zu guten, teuren Colleges gehen konnten. Aber heute ist durch die Verlagerung der Industrie in die Billiglohnländer die Basis des früher breit gestreuten Wohlstands derart geschrumpft, dass auch zwei Einkommen nicht mehr reichen, um den Kindern – ohne bedenkliche Verschuldung – noch eine traditionelle  Ausbildung garantieren zu können.

Die Fragen, die sich nach dem Sieg Trumps in den jetzigen Diskussionen aufdrängen: Wie kann er die durch seinen Wahlkampf so polarisierte amerikanische Gesellschaft wieder versöhnen, wofür er sich gleich nach der Wahl stark gemacht hat? Was ist von seinen Wirtschaftsperspektiven zu halten? Trump verspricht der „middle class“ die Rückkehr der Industrie in die heimischen Gefilde. Wie will man  frühere Fabrikationsstätten, die heute Brachen und Ruinen sind, wieder aufbauen? Durch das Zurückholen einer Keksfabrik von Mexiko in die USA, von der bei Trump im Wahlkampf so viel die Rede war? Trump möchte die Wanderarbeiter aus Mexiko über die Grenze zurückjagen, aber unterbezahlte Arbeit in den kalifornischen Rosinenfeldern wollen die Mitglieder der middle class ja gar nicht annehmen. Trump behauptet,  dass er eine Mauer an der Grenze nach Mexiko bauen werde, aber die haben Präsidenten vor ihm ja fatalerweise  schon errichtet.

Wie will man einerseits auf Protektions- und Isolationskurs gehen, gleichzeitig aber global neue Märkte erschließen und in der Weltpolitik die Nummer eins abgeben? Wie kriegt man Aufrüstung (sogar im atomaren Bereich) und den Abbau der unfassbar hohen Staatsschulden unter einen Hut? Wie will er öffentliche  Investitionen zur Schaffung von Arbeitsplätzen erhöhen und gleichzeitig die Steuern senken?  An sich ist gar nichts dagegen zu sagen – und es gehörte auch zu den Zielen Obamas -, dass man wieder mehr auf den nationalen Industriesektor setzt. Wie will man aber nach China ausgelagerte Industrien wieder zurückholen? Wie fängt man das an, wenn die amerikanischen Unternehmer darauf hinweisen, dass sie in den USA nicht zu den niedrigen Löhnen wie in Asien produzieren können und dort auch nicht mit den Forderungen der Gewerkschaften konfrontiert werden? Wird ein Milliardär wie Trump, der selbst von der Globalisierung profitierte, sich solchen Argumenten widersetzen? Wahlversprechen sind bekanntlich gut für den Stimmenfang, gehalten werden sie selten. Nach der Wahl ist vor der Aktion. Man muss sehen, was die künftige Trump-Administration unternimmt, um aus widersprüchlichen Zielen ein politisches Programm zu entwerfen, dessen Verwirklichung im Interesse der amerikanischen Nation und – bei der Verantwortung, die eine Großmacht trägt – der ganzen Welt liegt.

Paul Michael Lützeler ist Rosa May Distinguished University Professor in the Humanities an der Washington University in St. Louis.

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