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Kultur: Tschertschessow beschreibt den Einbruch des Fremden in eine beschauliche Dorfgemeinschaft

Dass Fortschritt und Freiheit ein Janusgesicht haben, ist eigentlich banal. Aber in der Kunst zählt, wie man weiß, nicht nur, was, sondern auch wie man etwas sagt: Und in seinem Debütroman sagt es der 1962 geborene nordossetische Schriftsteller Alan Tschertschessow auf ganz eigene Weise.

Dass Fortschritt und Freiheit ein Janusgesicht haben, ist eigentlich banal. Aber in der Kunst zählt, wie man weiß, nicht nur, was, sondern auch wie man etwas sagt: Und in seinem Debütroman sagt es der 1962 geborene nordossetische Schriftsteller Alan Tschertschessow auf ganz eigene Weise. Das liegt zunächst daran, dass sein "Requiem für einen Lebenden" eine archaische Gesellschaft in jenem Moment schildert, da das fremde Neue in die alte Ordnung einbricht.

Ein Einzelgänger ohne Namen, der nur "der Einsame" genannt wird, bringt das Leben in einem abgeschiedenen Kaukasusdorf, einem "Aul", durcheinander. Schon das Kind - als Waise ist der Einsame der geborene Außenseiter - stellt sich außerhalb des Gewohnten, als es ein von seiner Sippe gestohlenes Pferd zurückbringt, sich im verlassenen "Hadsar" seiner geflohenen Verwandten einrichtet und sich einen Sitz im Versammlungsplatz der Sippenältesten sichert, dem "Nihas". Bislang fest in der Tradition verwurzelt, erliegen die Dörfler dem Rätsel und Reiz des Neuen, das der Einsame ihnen bringt: Sie "witterten, wie das zum Untergang verurteilt war, was als ewig und unwandelbar galt, was allen wie ein Hirtenmantel gepaßt hatte, aber täglich enger wurde und eines Tages viel zu klein wäre." Nach dem Vorbild des Einsamen erlernen sie das Kartenspiel, erliegen der Magie der Kunst, entdecken den Handel, riskieren Kontakt mit den Russen in der "Festung".

Die Dorfgemeinschaft löst sich in konkurrierende Individuen auf, Einzelinteressen zersetzen das Kollektiv, die alten Sitten werden fragwürdig. Nicht länger taugt "die abgeplatzte Vergangenheit" als Richtschnur für die Gegenwart, die einst überschaubare Zukunft wird ungewiß: "Es ist aus mit uns, wir müssen als neue Menschen weiterleben", erkennt der Einsame, erschrocken über die Veränderung, die er angestoßen hat. Er selbst, der den Dingen nicht mehr ihren traditionellen Lauf lassen, sondern sie vernünftig regulieren will, scheitert am Ende an den unvorsehbaren, aber in der Freiheit zwangsläufig sich einstellenden Zufällen: Indem er in die überlieferte Ordnung eingreift, Kampf und Blutrache verhindert und die Maßstäbe von Recht und Moral, Sitte und Ehre verrückt, sät er zugleich den Keim für neue Zwietracht, Verwicklungen und Unglück. "Zuerst war er frei geworden, dann hatte ihn die Freiheit unterworfen und in ihren Sklaven verwandelt"; er übernimmt sich an der Freiheit, "die für ihn allmählich zur erzwungenen, teuflischen Notwendigkeit wurde", und muss, Konsequenz seiner Hybris, schließlich das Dorf verlassen.

Alan Tschertschessow schildert eine Welt im Umbruch, die nicht eine versunkene von vor 100 Jahren sein muss, sondern auch die aktuelle sein mag: Da die Handlung zeitlich nicht eindeutig eingegrenzt ist, durchzieht der "Duft der Ewigkeit" den Roman, der nicht mehr eine bestimmte Epoche abschildert, sondern zum Gleichnis wird für die zweischneidige Beziehung von Tradition und Fortschritt, Befreiung und Verstrickung.

Meisterlich beschreibt Tschertschessow, wie das geheimnisvolle Fremde, die rätselhafte Verlockung von den Menschen Besitz ergreift, bis das Neue sich "viele Jahre später geklärt hat wie der Zauberwein in der Dunkelheit." Erzählt wird aus der Perspektive der faszinierten Dorfbewohner, in langen Sätzen, die sich, wie die Wurzeln eines Baumes auf der Suche nach Halt und Nahrung, über die Seiten ausbreiten auf der Suche nach dem Sinn des Neuen und doch das Unerhörte nicht ergründen.

Ganz besonders fesselt Tschertschessows urwüchsige Bildersprache. "Das Licht unterwarf die Dunkelheit und Ruhe", heißt es bei ihm von der Morgendämmerung, und von der hereinbrechenden Nacht: "Dann schabte die Stille das Glitzern vom Fluss ab". Einem "bleichen, speckig glänzenden Mann" sagt er "Ähnlichkeit mit einem Fingernagel" nach, und ein völlig Apathischer hat "Augen, gleichgültig wie Hufe". Tschertschessow ist gelegentlich sogar überraschend weise: "Nur ist Verachtung gepaart mit Neid dasselbe wie Fleisch mit Salz, also etwas ganz Normales." So kräftig und so schöpferisch wird selten erzählt.Alan Tschertschessow: Requiem für einen Lebenden. Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. S. Fischer Verlag, Frankfurt (Main) 1999. 383 Seiten, 44 DM.

Peter Köhler

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