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Kultur: Tu was, tu nix

Jakob Hein schreibt einen Hartz IV-Roman

Herr Jensen ist so genügsam, dass er nicht mal einen Vornamen hat. Außerdem geht er nicht mit der Zeit, sieht nicht gut aus, hat weder Freunde noch Sex und erfüllt auch sonst keines der zehn Gebote der Konsumgesellschaft. Trotzdem ist Herr Jensen nicht unglücklich, sondern ein zuverlässiger und zufriedener Postbote. Bis er freigestellt wird, um Freistellungen zu vermeiden. Das versteht Herr Jensen nicht, denn es ist nicht zu verstehen. Er ging davon aus, dass alles bleibt, wie es ist. Nun ist er einer von fünf Millionen. Jakob Hein hat einen Hartz IV-Roman geschrieben. Auf nicht einmal 150 Seiten, in knappen Kapiteln, mit treffsicheren Pointen und tragikomischer Melancholie. Der Held sagt Weises, ganz aus der Perspektive des Verlierers.

Zum Thema Tagesspiegel Online: Leipziger Buchmesse  Service Online bestellen: "Herr Jensen steigt aus" In seinen ersten drei Büchern hat Hein Autobiografisches in der ersten Person Singular geschrieben. Über seine Jugend in der DDR, von einer Reise in die USA und, zuletzt, über den Tod seiner Mutter. Mit „Herr Jensen steigt aus“ hat er zur dritten Person gewechselt und einem fast kühlen Abstand. Herr Jensen ist in seiner kauzigen Außenseiterrolle zu anspruchslos, um eine Identifikationsfigur zu sein. Erst als er beginnt, Fragen zu stellen, wird er menschlich. Auf der Suche nach Antworten stellt Herr Jensen fest, dass die gängigen Erklärungsmuster für ihn nicht mehr zutreffen. Das Fernsehen richtet sich genauso an die schönen Reichen wie die Werbeprospekte in seinem Briefkasten. Antwortet er auf die Partyfrage „Und, was machst du so?“ wahrheitsgemäß mit „Nichts“, wenden sich die Gesprächspartner peinlich berührt ab. Herr Jensen denkt nach: über Kopien als Informationsvernichtung, über das Verhältnis zwischen Fußball und Fernsehkameras, über Gebrauchtwaren und Natur, über die Sinnlosigkeit von Weiterbildungsmaßnahmen und über die Wirtschaftskrise, von der alle reden, von der er aber nichts sieht, da vor seiner Haustür immer noch dieselben Leute mit denselben Hunden spazieren gehen. Das Absurde interressiert Jakob Hein. Herr Jensen entwickelt am Schluss leicht paranoide Züge. Der, der alles hingenommen hat, stellt sogar die Funktion von Verkehrsschildern in Frage. Und die Konsequenz? Herr Jensen steigt aus.

Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus. Roman. Piper Verlag, München. 134 Seiten, 14,90 €.

Lea Streisand

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