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Tucson, Arizona, liegt 60 Kilometer nördlich der Grenze zu Mexiko. Die Debatten um Einwanderer und Flüchtlinge sind hier besonders erbittert.

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Tucson-Attentat: Die Sonne war Zeuge

Legende und Wirklichkeit eines Tatorts: Geschichten aus Tucson, Arizona.

Bei „La Salsa“ an der North Oracle Road von Tucson treffen sich Angestellte und Hausfrauen gern zu einem schnellen mexikanischen Lunch. Ein paar Schritte entfernt liegt der Safeway-Supermarkt, aus dem die „Snowbirds“ – die Schneeflüchtlinge aus den nördlichen Bundesstaaten – und die übrigen Bewohner der Stadt ihre vollgepackten Einkaufswagen auf den Parkplatz schieben. Der Platz ist zum Tatort geworden: Hier schoss der 22-jährige Jared Lee L. am vergangenen Samstag der Kongressabgeordneten Gabrielle Giffords in den Kopf, verletzte 14 Menschen und traf sechs weitere tödlich, darunter einen Richter und eine Neunjährige.

Tucson, Arizona: eine Stadt, eine Region, wie sie friedlicher kaum sein könnte. Die Sonne scheint, hier im Süden Arizonas, an mehr als 300 Tagen im Jahr; man schätzt äußerste Behaglichkeit, geht gern mal rasch in Jogginghosen zum Einkaufen und legt Wert auf einen entspannten Lebensrhythmus. Die Welt und ihre Katastrophen sind gefühlte Lichtjahre weit weg – zumindest auf den ersten Blick. Arizona ist einer der südwestlichen US-Bundesstaaten, deren rasch wachsende Städte sich in die Wüste hineinfressen, eine Wildwestregion, in der die Zivilisation der Hitze und der Trockenheit abgetrotzt wurde. Der Mensch ist eine Wüste oder all you need is water: Das prägt den Charakter – und den Mythos Arizona als Land der lonesome Cowboys. „Jojo“, einer davon, „left his home in Tucson, Arizona/ for some California grass. Get back, get back,“ sangen die Beatles.

Ein Land, aus dem man sich davon macht – oder das man aggressiv verteidigt: Mit seiner über 700 Kilometer langen Grenze zu Mexiko ist Arizona Schauplatz permanenter Auseinandersetzungen zwischen Grenzschützern und Flüchtlingen aus Mexiko und dem Rest Lateinamerikas. Auf der anderen Seite der Grenze tobt der Kampf zwischen den Drogen- und Menschenschlepperkartellen und dem Staat. Es ist ein regelrechter Bürgerkrieg. Arizona gilt spätestens seit der reaktionären Verschärfung seines Einwanderungsgesetzes letzten Sommer (auch als Reaktion auf die Ermordung eines Ranchers) und den darauf folgenden Boykottandrohungen anderer US-Staaten und Städte als „Pulverfass des Zorns“, wie der Sender ABC News es nannte. Dem Gesetz zufolge hätten sich Einwanderer schon strafbar gemacht, wenn sie ihre Aufenthaltspapiere nicht bei sich tragen. Und die Polizei hätte „bei begründetem Verdacht“ jeden Latino kontrollieren und festhalten dürfen.

Der Parkplatz vor dem Safeway-Supermarkt. Schauplatz des Attentats vom 8. Januar.
Der Parkplatz vor dem Safeway-Supermarkt. Schauplatz des Attentats vom 8. Januar.

© dpa

Obama kritisierte das Gesetz SB1070, auch Bürgerrechtsorganisationen liefen Sturm gegen die „Ley Arizona“, wie es in Mexiko heißt. Nun wird geprüft, ob es verfassungswidrig ist. Der Schriftsteller Carlos Fuentes nennt es ein „Rassistengesetz“, vergleichbar mit der Judenverfolgung durch die Nazis.

Nach Nogales, der Stadt, die halb zu Mexiko und halb zu den USA gehört, ist es über die Oracle Road nicht weit, knapp zwei Stunden mit dem Auto in Richtung Süden. Die Bewohner von Tucson fahren am Wochenende dorthin, um günstig einzukaufen. Umgekehrt ist die riesige Tucson Mall, die nicht weit von Downtown ebenfalls an der Oracle Road liegt, voller Mexikaner. Manche wohlhabende Familie besitzt Häuser in Mexiko und Arizona.

Für die Flüchtlinge, die über die militarisierte Grenze ins gelobte Land gelangen wollen, endet der Weg durch die Wüste nicht selten tödlich. Montags lesen die Tucsonianer in ihren adretten Häusern mit den gepflegten Vorgärten in der Zeitung die Wochenendbilanz der Hilfsorganisationen. Diese listen auf, wie viele verdurstete Flüchtlinge wieder in der Wüste gefunden wurden. Tucson, die Hauptstadt der Eiferer und ultrapatriotischen Militanten? Den zahlreichen billigen und rechtlosen Arbeitskräften aus dem Süden stehen in der Region Flüchtlingsjäger und Bürgermilizen gegenüber, die in Eigenregie an der Grenze patrouillieren, weil die US-Regierung in ihren Augen die Grenzen nicht ausreichend schützt.

"Rio Bravo" mit John Wayne entstand 1959 in den Old Tucson Studios.
"Rio Bravo" mit John Wayne entstand 1959 in den Old Tucson Studios.

© Cinetext/RR

Die Universitätsstadt zählt zu den am schnellsten wachsenden Regionen der USA. Downtown bestimmen radelnde Studenten das Straßenbild rund um den Campus. Hier erhielt die Demokratin Gabrielle Giffords im Sommer für ihre Unterstützung der Sonnenenergie-Forschung einen Preis der Optical Society of America. Doch es sind vor allem Rentner aus dem Norden, die herziehen. Wie in Florida kommen sie wegen der Wärme.

Die Touristen kommen vor allem im Winter. Dann ist Hochsaison in Tucson, im Teehaus des Tohono Chul Parks in der Nähe des „La Salsa“ klingeln die Kassen, hier decken sich die Besucher mit indianischem Schmuck ein oder mit chiliförmigen Salzstreuern. Wer ökologisch bewusst lebt, besucht auf der anderen Straßenseite den Whole Foods Markt, in dem lokale Bio-Produkte verkauft werden.

Ein Stück weiter kreuzt die Oracle Road eine Straße, die von Westen nach Osten verläuft, gesäumt von hübschen kleinen Siedlungen mit rosa Häusern. In der idyllischen Nachbarschaft von Orange Grove setzen sich morgens um acht die Familientrucks und Limousinen in Bewegung. Ab 17 Uhr kehren sie zurück, Teenager plantschen im Pool. Geregelte, kleinbürgerliche Tagesabläufe. Kaum vorstellbar, dass in dieser Gegend einmal das Faustrecht galt.

Unweit von Tucson liegt die alte Westernstadt Tombstone (nach der ein süßer Rotwein aus Prärietrauben benannt ist, der „Tombstone Red“). Auch die Old Tucson Studios, heute eine Touristenattraktion, schrieben Western-Geschichte. Über 300 Filme wurden im „Hollywood der Wüste“ gedreht, seit William Holden und Jean Arthur 1939 für „Arizona“ vor der Kamera standen. Hier ritten John Wayne, James Stewart, James Garner und Clint Eastwood durch die Prärie, hier entstanden „Rio Bravo“, „The Outrage“ mit Paul Newman, „The last Outpost“ mit Ronald Reagan und „Tombstone“ mit Kurt Russell und Val Kilmer – und ein paar Folgen von „Bonanza“. Arizona hat eines der laxesten Waffengesetze, im Sommer 2010 wurde es noch einmal gelockert. Gabrielle Giffords hat das Recht auf freien Zugang zu Waffen immer verteidigt.

Bürgermilizen an der Grenze zu Mexiko.
Bürgermilizen an der Grenze zu Mexiko.

© AFP

Die Wildnis liegt gleich um die Ecke: Im Sabino Canyon, einem beliebten Wanderweg in den Foothills, wird auf Schildern vor Bären und Berglöwen gewarnt. Und der Smog von Tucson verstärkt den Effekt der rot-violetten Sonnenuntergänge, die genauso überwältigend aussehen wie in den alten Filmen. Die psychedelische Variante des Mythos vom Wilden Westen stammt übrigens von Emir Kusturica, dem Regie-Westernhelden aus Belgrad: „Arizona Dream“ mit Johnny Depp und Jerry Lewis ist eine surreale Elegie auf das Land des Grand Canyon.

Nach 22 Uhr wird es ruhig in der Stadt, nur noch Autos sind unterwegs. Manchmal hört man das Pfeifen der Züge unten im Tal und denkt an die Zeit, als die Eisenbahn gebaut wurde, mit der der Westen endgültig erobert wurde. Außerhalb der umzäunten Siedlungen in der gutbürgerlichen Gegend am Fuß der Catalina Mountains ragen baumhohe Kakteen in den wolkenlosen Himmel über der Sonora Wüste. Obdachlose an den Kreuzungen recken den Autofahrern ihre handbeschriebenen Pappschilder entgegen: „Will work for food. Thank you!“

Die Cowboys sind verschwunden, die Indianer sind noch da. Sie leben im Süden der Stadt in einem Reservat, rund um die schneeweiße katholische St. Xavier Mission. Und wer die Stadt nördlich Richtung Oro Valley verlässt, der gelangt nach ein paar Stunden ins Land der Apachen: In den White Mountains lebte der legendäre Häuptling Geronimo. Gleich hinter dem Salt River Canyon verkaufen die Indianer auf einem kleinen Markt Silberschmuck mit Türkisen, denen sie eine heilende Wirkung nachsagen. Ihre Haupteinnahmequelle ist jedoch das Casino in Fort Apache.

Alle vier Jahre treffen sich im Rillito Raceway Park im Norden von Tucson am Silvestertag Ureinwohner von 187 Volksstämmen aus aller Welt zum Powow an einem ausgetrockneten Flussbett. Eskimos, Apachen, Cherokee, Aborigines feiern ein Fest, mit magischer Zeremonie um Mitternacht. Unter den milde blinkenden Sternenhimmel tanzen sie gemeinsam den „Friendship Dance“. Die meisten Indianer leben heute in großer Armut.

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