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Philippe Petit (Joseph Gordon-Levitt) balanciert auf dem 60 Meter langen Seil zwischen den Türmen des World Trade Center.

© Sony Pictures

Twin-Towers-Film "The Walk": Tanz über dem Abgrund

Auf dem Seil über die Twin Towers in 417 Metern Höhe: Robert Zemeckis feiert in „The Walk“ das Kunststück des Philippe Petit von 1974 – in betörendem 3-D.

Stoff zum Nörgeln gäbe es genug. Zum Beispiel, dass die Story, vor allem die langwierige Vorbereitung der dramatischen Klimax, für zwei ganze Kinostunden nicht genügt. Dass die aufwendige Rekrutierung der Helfercrew, deren Individualcharaktere kaum zur Skizze taugen, reichlich öde rüberkommt. Dass die Rückblenden in die Jugend des Helden so hastig wie niedlich bleiben. Dass das Englisch, das amerikanische Schauspieler drehbuchgerecht mit französischem Akzent radebrechen, bald zu nerven beginnt. Und aus schneckenpostfeministischer Sicht ließe sich streng anmerken, dass die einzige Schauspielerin in „The Walk“, Charlotte Le Bon, ihrem Angebeteten allenfalls mal ein Stullentellerchen servieren darf – es sei denn, sie entblößt zwecks Lächelns ihre zauberhaft unregelmäßigen Zähne.

Nun, wir sind in den sechziger und den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und da hat man manches noch nicht so eng gesehen. Damals auch konnten als Architekten und Journalisten verkleidete Hasardeure mal eben eine amerikanische Großstadtbaustelle kapern und auf dem Dach zweier Wolkenkratzer weitgehend ungestört ihren großen Coup inszenieren: den Tanz in 417 Metern Höhe auf einem Stahlseil zwischen zwei Hochhaustürmen, und das achtmal hin und her – achtmal mehr, als jede Polizei der Welt erlaubt. Klar klappern da erst mal die Handschellen, aber der sofortige Weltruhm erzwingt unverzüglich den Freispruch erster Klasse.

Es ist früher Morgen am 7. August 1974

Vor allem aber lohnt das neueste Solistenabenteuer des Robert Zemeckis („Forrest Gump“, „Cast Away“) wegen jener knapp 20 Minuten, in denen der Zuschauer aus göttlicher Draufsicht dem Hochseilartisten Philippe Petit (Joseph Gordon-Levitt) bei seinem Rekordspaziergang zwischen Himmel und Erde zusieht – das fast einen halben Kilometer entfernte Lower Manhattan stets im Hintergrund. Es ist der frühe Morgen des 7. August 1974, die aufgegangene Sonne spiegelt sich im East River, in der Ferne von Midtown leuchtet das Empire State Building, eben noch das höchste Gebäude der Welt. Bis die Türme kamen, die die New Yorker erst verächtlich „Aktenschränke“ nannten. Aber dann schenkte dieser dahergereiste französische Luftikus ihnen ihren Zauber. Ihren Mythos. Ihre Seele.

Ein bisschen Schwindelfreiheit allerdings schadet nie, wenn man in den Abgrund blickt. Auch nicht im Kinosaal, wobei die 3-D-Brille – nach all den blassen dreidimensionalen Kraftmeiereien aus jüngerer Zeit – den Thrill endlich wieder erheblich verstärkt. Auch lassen sich manche Seiltänzergesetze mühelos aufs bodenständigere Alltagsleben übertragen. „Wenn du deine Konzentration verlierst“, sagt etwa Petits dauergrummelnder Mentor Papa Rudy (Ben Kingsley), „dann verlierst du dein Gleichgewicht.“ Oder Philippe selber räsonniert, als gutgelaunter Erzähler in eigenen Angelegenheiten reichlich ungesichert in der Fackel der Freiheitsstatue herumturnend, über typische Berufsrisiken: „Die meisten stürzen ab, wenn sie glauben, dass sie bereits angekommen sind. Dabei stehen sie immer noch auf dem Seil.“

Wie wahr sind derlei Weisheiten, gerade in wackligen Zeiten! Für Philippe Petit, dem Zemeckis nach dessen Autobiografie „To Reach the Clouds“ ein getreues Denkmal errichtet, sind sie seit frühester Jugend grundsätzlich wacklig. Zunächst, weil der Vater die Artistensehnsüchte des Sohns nicht teilt und ihn aus dem Elternhaus vertreibt. Sodann, weil es Philippe nach Anfängen als Jongleur und Pantomime auf Pariser Straßen alsbald aufs Seil treibt, wo er sich eigene, vom Kanon der Zirkusakrobaten abweichende Luftnummern ausdenkt. Und eines Tages, beim Zahnarzt, sieht er in der Wartezimmerzeitschrift eine Fotografie von der Baustelle der Twin Towers: Da muss er hin, für jenen eine ganze Biografie überstrahlenden Augenblick, für fifteen oder auch fifty minutes of fame, für den einen unnachahmlichen Flirt mit der Ewigkeit.

Mit den neuesten digitalen Bewegtbildtricks

Unerhört eifrig im Detail und mit den allerneuesten digitalen Bewegtbildtricks erfindet „The Walk“ jenes nicht mehr existierende Manhattan für die Leinwand neu, und tatsächlich sehen die im Computer gerenderten Twin Towers so echt aus wie der analoge Nachbau eines Stückchens vom Südturmdach. Perfekt auch die Illusion, wonach Gordon-Levitt nicht nach seinem einwöchigem Seiltanzkurs mal eben vor dem Greenscreen paradiert, sondern in äußerster Lebensgefahr auf einer Strecke von knapp 70 Metern zwischen den Dächern unterwegs ist – mit langer Metallstange als einziger Stabilisierung. In diesem Augenblicken ist „The Walk“ klassisches Spektakelkino, Jahrmarktsattraktion wie in seinen historischen Anfängen, und auf einmal trennt die Zirkusartisten von dunnemals und die visual artists von heute nicht mehr als ein Wimpernschlag.

Vom 11. September übrigens ist nie die Rede in „The Walk“. Und doch ist der Anschlag, unvergänglich in jedem nicht ganz jungen Zuschauergedächtnis abgespeichert, in allen Bildern der Türme präsent. So versöhnt der Film für einen Moment auch mit dem Schrecken, der die Menschheit ins terroristische Zeitalter katapultierte – indem er einem kindisch riesigen Traum huldigt, zum Ereignis geworden ein Vierteljahrhundert, bevor das Trauma kam. Als bliebe am Ende, auch das eine alte Seiltänzersentenz, nur das Schöne.

"The Walk" - ab Donnerstag in 14 Berliner Kinos.

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