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Kultur: Über den Dunst

Ulrich Waller inszeniert am Renaissance Theater O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“

Kein Zweifel, diese Familie gehört auf die Couch. Der Vater James: ein Geizkragen und Säufer, der sein Schauspieltalent an den Kommerz verraten hat. Die Mutter Mary: eine unheilbare Morphinistin, die vor den Gespenstern der Vergangenheit ins Delirium flieht. Der älteste Sohn, James junior: ein Tunichtgut, der den Erwartungsdruck im Puff abzulassen versucht. Der jüngere, Edmund: ein Schwindsüchtiger mit ausgewachsenem Schuldkomplex. Jeder für sich ein tragischer Fall, ein Gruselkabinett neurotischer Verstrickungen. Eugene O’Neill hat für sein Drama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ die eigene Biografie geplündert, dem Vernehmen nach unter Schmerzen, es war Schreiben als Selbsttherapie. Geheilt hat es ihn nicht. Immerhin konnte er Maßstäbe für kaputte Zwangsverhältnisse auf der Bühne setzen.

Regisseur Ulrich Waller, der das Noctturno der Tyrones auf die Bühne des Renaissance Theaters bringt, versucht nun mal einen neuen Ansatz, um diesem 1940 entstandenen Portrait der amerikanischen Traumscheiterer und Seelenversehrten analytisch beizukommen. Er inszeniert das Gegenteil der heute so beliebten Familienaufstellung: das Sippen-Sitzen. Gerd Böckmann als Patriarch James Tyrone raucht im Sessel Zigarre, seine Frau (Angela Schmid) drapiert sich aufs Sofa, David Bennents moribunder Edmund hockt auf einem Stuhl und hustet vor sich hin, Ben Beckers James junior lümmelt mit verschränkten Armen am Tisch. Mach’s dir gemütlich mit O’Neill. Es vergehen drei Akte, in denen die Schauspieler tatsächlich kaum in die Gänge kommen. Besonders gern legt einer die Füße hoch und deklamiert in die Luft – muss man das mit der Couch so wörtlich nehmen?

„Herrgott Papa, ich kotze gleich, dann bin ich eben ein Penner!“, ruft Becker in einem Tonfall, in dem andere über herumliegende Socken nölen. Schmid parodiert daneben eine entrückte Hysterikerin, indem sie ihre Sätze in einem seltsamen Singsang vorträgt („Ich habe mich bemüht, ich habe mich seeeehr bemühüt“). Und Böckmann wirkt, als hätte er mit dieser Bagage um ihn herum so viel innere Verbundenheit wie mit einer Schar Versprengter am Buswartehäuschen. Es sind ja weiß Gott keine schlechten Schauspieler. Aber die Regie lässt sie alle allein, und entsprechend freimütig spielen sie aneinander vorbei. Der gepanschte Whiskey fließt in Strömen, aber die Verdrängungen, Verletzungen, Selbsttäuschungen, die in dieser Familie wüten – man spürt sie nicht. Ein psychologisch-realistisches Theater, gegenwärtig verpönt genug, führt sich selbst ad absurdum.

Bis nach der Pause Leben aufkommt, begleitet vom Tröten eines Nebelhorns, klar, das Stück spielt ja im Dunst. Plötzlich gibt es in der Inszenierung, die am St.-Pauli-Theater war und zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen weiterzieht, stürmischere Begegnungen als die zwischen Schauspieler und Flasche. Wenn sich Ben Becker und David Bennent als Brüder mit ihrer geballten Hassliebe konfrontieren, ist das großartig – warum hat Waller (Regisseur der Lindenberg-Sause „Hinterm Horizont“) nicht mehr solcher Momente hinbekommen?Patrick Wildermann

bis 13.2, tgl, 20 Uhr, So um 18 Uhr

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