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Kultur: Über den Grenzen des Alls

PHILHARMONIE

Der Mann zeigt sich einfach nicht gern. Am wohlsten, heißt es, fühle sich Christian Thielemann im mystischen Abgrund des Bayreuther Festspielhauses: Weil es dort um Wagner geht – und weil er dort des Sommers ganz ungeniert im T-Shirt seines Amtes walten kann. Jetzt aber ist bitterkalter Winter, und Thielemann muss im Frack vor die Berliner Philharmoniker treten. Eine Aufgabe, die ihn (wenigstens zu Beginn) spürbar nervös macht. Wie auf der sprichwörtlichen Flucht nach vorn und allzu jungenhaft unbeschwert stürmt er das Podium, um vor Richard Strauss’ Symphonischer Fantasie aus der „Frau ohne Schatten“ sofort in einer seltsamen Ganzkörperverspannung zu erstarren. Die breiten Schultern wie aus Gusseisen oder Zement, geht Thieleman tief in die Knie und pumpt sich, als stemmte er titanische Klanggewichte gen Saaldecke, aus dieser Lage wieder empor; oder reißt jäh die Arme in die Höh’, als stünde er doch im Graben eines Opernhauses; oder kriecht den Celli buchstäblich in ihre F-Löcher.

Eine Exaltiertheit und Schlagtechnik, die zweierlei verrät: Dass Thielemann sehr genau weiß, was er will; und dass er nur selten weiß, wie er es sagen soll. Die Philharmoniker jedenfalls warteten erst einmal ab und ließen sich bei aller Süffigkeit des Tons weder in der genannten Fantasie (einer spätzeitlichen Gelegenheitsübung von 1946, die in reichlich überflüssiger Weise die Verwandlungsmusiken der Oper bündelt) noch im zweiten Hornkonzert (innig: Stefan Dohr) zu größeren Bekenntnissen provozieren. Und so blieb der späte Strauss an diesem Abend, was er ist: ein Meister der Selbstverwertung.

Nach der Pause aber war alles anders. Ob es an den Stücken lag und also am frühen Strauss selbst, der in seinen Tondichtungen vor der Wende zum 20. Jahrhundert hin (mit Mahler!) alle Grenzen der Ästhetik und des schlechten Geschmacks sprengte? Oder an Thielemann, der sich forschen Schrittes zu sagen schien: jetzt oder nie? Oder an den Philharmonikern, die sich seinem martialischen Zugriff nicht länger entziehen konnten?

Geradezu schamlos und mit der allergrößten Entgrenzungslust trieb Thielemann die Effekte von „Tod und Verklärung“ auf die Spitze: Zwischen dem Höllenknarzen des schweren Blechs und den Streichersilberfäden jedenfalls hatte keinerlei (ohnehin falsch verstandene) Metaphysik mehr Platz, und die Fortissimi wären gut dazu angetan gewesen, das Dach des Scharoun-Baus zu lupfen. Die phänomenale Kraft aber, die Thielemann in der Schlusssteigerung aufbot, das In-der-Schwebe-Lassen und doch Zwingen, sie erklärte Strauss endlich und zu Recht zum Zeitgenossen der Klassischen Moderne. Gutlauniges dann im „Till Eulenspiegel“ – und ein ob des monothematischen Programms nur mittelmäßig rasendes Publikum.

Christine Lemke-Matwey

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