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Kultur: "Über Leben": Der Trick mit der Tür

In Sebastian Haffners nachgelassenen Erinnerungen aus den Jahren 1914-1933, die vor ein paar Monaten unter dem Titel "Geschichte eines Deutschen" erschienen sind, gibt es viele Stellen, an denen aus der Geschichte auf einmal eine Geschichte wird. Eine der eindrücklichsten Schilderungen ergibt sich aus einer Situation, die in tausend anderen Büchern auch berichtet worden ist, aber eben nicht: erzählt.

In Sebastian Haffners nachgelassenen Erinnerungen aus den Jahren 1914-1933, die vor ein paar Monaten unter dem Titel "Geschichte eines Deutschen" erschienen sind, gibt es viele Stellen, an denen aus der Geschichte auf einmal eine Geschichte wird. Eine der eindrücklichsten Schilderungen ergibt sich aus einer Situation, die in tausend anderen Büchern auch berichtet worden ist, aber eben nicht: erzählt. Es geht um die Tage, nach Hitlers Machtergreifung, und das Erstaunliche ist, wie sie dahingehen. Haffner erkennt, dass es für ihn im Moment keine Möglichkeit zum Widerstand gibt: "Nun gut", schreibt er, "so wollte ich mich wenigstens nicht im geringsten von ihnen stören lassen. Es mochte sogar mit einem gewissen Trotz geschehen, dass ich beschloss, nun gerade auf einen großen Faschingsball zu gehen, obwohl mir gar nicht besonders nach Fasching zumute war. Aber das wollten wir doch erst sehen, ob die Nazis dem Fasching etwas anhaben können".

Man liest so etwas - und sieht klarer. In den Theaterstücken der 1934 in Amsterdam geborenen, immer noch außerhalb ihres Landes eher unbekannten jüdischen Dramatikerin, Lyrikerin und Übersetzerin Judith Herzberg liegen die Dinge ähnlich. Noch das Furchtbarste - und zumal die Erinnerung daran - hat hier auch immer etwas ganz Normales. Judith Herzbergs Stücke sind Dramen, in denen die Katastrophen deshalb noch komisch wirken, weil ihr katastrophalster Teil zum Beispiel vom Klempner Kluiters erzählt wird, als handle es sich um eine Boulevard-Nummer. Dabei geht es um ein Begräbnis. Judith Herzberg müsste drei Punkte hinter jeder Geschichte stehen lassen, weil sie so viel sagt und sagen lässt, aber für Punkte hat sie nach den Dialogen keine Zeit, und deshalb setzt sie höchstens einen Bindestrich für ihre Personen, die reden und reden, als wären sie in Tschechows Schule gegangen, um anschließend bei Botho Strauß zu promovieren, aber nicht ernsthaft.

Im Stuttgarter Staatstheater hat der Regisseur Stephan Kimmig so viel Interesse an den Geschichten von Judith Herzberg, die von den Überlebenden und ihrem ganz normalen, unnormalen Leben erzählen, dass er gar nicht mehr aufhören kann, sie vortragen zu lassen. Er kombiniert unter dem Titel "Über Leben" gleich zwei große Stücke, die nirgendwo sonst in Deutschland im Repertoire gezeigt werden: "Leas Hochzeit" von 1982 und "Heftgarn" von 1995, dazu inszeniert einen Tag später Hans-Ulrich Becker das eher etüdenhafte Ein-Mann-zwei-Frauen-Stück "Und/Oder". Viereinhalb Stunden dauert Kimmigs Beschäftigung mit Judith Herzbergs Stücken - ein langer Abend, keine Sekunde langweilig und sogar eigentlich zu kurz. Denn Kimmigs Inszenierung spielt die Pünktchen selten mit, die Judith Herzberg vergessen hat. Und er spürt nicht oft genug, dass beide Stücke Ruhe brauchen, Pausen, Stille, gerade, weil sie aus nie abreißenden Unterhaltungen und Selbstbefragungen einer immer unjüdischer werdenden Großfamilie bestehen, die in Amsterdam von 1970 bis heute (und in einem Epilog sogar über dieses Jahr hinaus) ständig erörtert, wer mit wem und warum glücklich werden könnte, oder wer ohne wen und weshalb unglücklich sein muss.

Der Haffner-Effekt

Es wird überaus reichlich geheiratet und ziemlich reichlich gestorben, das geht wirklich Knall auf Fall, aber man darf es selbstverständlich nicht so inszenieren. Wenn es sehr gut geht bei dieser Regie, geht es so: Ada zum Beispiel, Leas Mutter, die ihr Kind zur "Kriegsmutter" Riet gegeben hat (aber das ist eine andere, eben auch Judith Herzbergs wirkliche Geschichte), erzählt ziemlich am Anfang der Hochzeit ein Erlebnis aus der Straßenbahn und wie sie mit dem Stock versucht hat, die Tür noch aufzubekommen, um auszusteigen. Eine ganz normale Szene, denkt man, aber das denkt man bei Judith Herzberg erstmal immer. Die Schauspielerin Helga Grimme agiert da ganz groß als Dame in einer Pantomime, als ob es wirklich um die Tür ginge. Das eigentlich Wichtige erzählt sie nebenbei (das ist der Trick), hinterher, ganz schnell - nämlich, dass sie schwarze Stiefel gesehen habe und geschrien, aber es waren nur Kontrolleure, und es ist ja schließlich auch das Amsterdam von heute. Dann gibt es eine Unterbrechung. Keiner sagt etwas, ehe dann wieder gelacht und sich gekracht wird, Fetzen fliegen und Gläser gehoben werden. Da hält auch Stephan Kimmig einen Moment inne - und es wird in der Sekunde ziemlich bedrohlich und direkt unsere Geschichte, menschlich begreifbar - der Haffner-Effekt, wenn man so will.

Bei über hundert Szenen bleiben diese Momente dann doch Ausnahme, denn die Regie steht unter einem selbstgesetzten Druck. Einerseits arbeitet sie an einem Panorama-Bild, andererseits muss sie eine Menge Text sortieren und spielen lassen. Kimmig entscheidet sich dann - aus Not, aus Neigung? - für die Türangelmechanik auf dieser silbrig-kalten Galeriewohnungsbühne (Katja Haß). Wenn einer raus ist, stehen schon die nächsten da.

An der tragischen Komik in Judith Herzbergs Texten kommt keiner vorbei, und die Pointen, die nie gesetzt werden, sondern einfach dastehen, sagen: Verweile doch! Manchmal möchte Kimmig schon. Dann spielt er Musik, Zeichen der Zeit: Janis Joplin, Prince, Frankie goes to Hollywood. Und schließlich, zweimal an entscheidender Stelle, Robert Schumann und diesen geheimnisvollen h-Moll-Sextakkord, der das Heine-Lied "Im wunderschönen Monat Mai" eröffnet. Das Lied ist ein einziger Schwebezustand. Es ist so, wie die Inszenierung gerne wäre, aber zu selten ist. Sie muss derart viel herzeigen und aussprechen, dass sie nur immer kurz sehen lässt, wo gerade im Dialog ein menschlicher Abgrund war, aber kaum, wie tief er eigentlich ist (oder eben nicht, was auch häufiger vorkommt).

Bewundernswert bleibt, dass ein Haus zeigt, welche Seelenlandschaften die anwesende und gefeierte Judith Herzberg entwerfen kann, und wie sich in ihren Sätzen vom Einzelnen auf das Ganze schließen lässt. Es gibt da - was die Geschichte der jüdischen Überlebenden und ihrer Kinder anbetrifft, sonst nichts Vergleichbares auf dem Theater, und Sobol und "Ghetto" sind ein anderes Extrem. Stephan Kimmig hat die Teile dieses Gesamtbildes auseinandergepuzzelt, fleißig, oft auch bemüht, manchmal ein wenig ratlos. Es bräuchte jetzt jemanden, der das Panorama stilsicher wieder zusammensetzt. In Berlin hätte es früher zwei Regisseure für solche Stücke gegeben, Andrea Breth und Luc Bondy, nur zum Vergleich. Aber das war einmal.

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