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Szene aus der Inszenierung von "War and Peace" von Gob Squad an den Münchner Kammerfestspielen.

© David Baltzer

Über Tischgesellschaften und Tischgespräche: Auf einer Wellenlänge

Wenn bei Tischgesellschaften ewiger Konsens herrscht, kann das mitunter langweilig werden. Unser Autor lernt die Interferenzen einer Tafelrunde schätzen.

Die Theatergruppe Gob Squad hat für ihre Inszenierung von Tolstois „Krieg und Frieden“ (wieder 1. 5., 20 Uhr) im Parkett der Volksbühne einen russischen Salon nachgebaut. Vier Schauspieler und drei Gäste aus dem Publikum sitzen um einen gedeckten Tisch und sprechen über die Welt.

Berit Stumpf, eine der Schauspielerinnen, erzählt, dass Anna Pavlovna Scherer, im Roman die Gastgeberin des Petersburger Salons, in ihren Einladungen nie eine Zeit angab, sondern nur schrieb, man möge kommen, wann man wolle. Weil sie wisse, dass sowieso jeder irgendwann kommt, vom Anhänger des Zaren Alexander bis zu den Sympathisanten des Revolutionärs Napoleons. Berit Stumpf dreht sich zu Florian, einem der Gäste: „Ich mache mir ja immer Sorgen, dass meine Gäste am Tisch nicht zusammenpassen.“ Bei ihm, sagt Florian, sei das nicht problematisch, seine Freunde passten sowieso zusammen. Mein Sitznachbar, ein Mann Ende zwanzig, schaut skeptisch. Nach der Vorstellung sagte er, der Satz habe so fremd gewirkt. Aber dann habe er gemerkt: Bei ihm ist es genauso, Gäste passen immer zusammen, sind auf einer Wellenlänge.

Man kennt das aus dem algorithmisch geordneten Social Web: Dort gibt es die Filter Bubbles, Wahrnehmungsblasen, in denen man nur das angezeigt bekommt, was einem gefallen könnte oder was der Algorithmus für eine passende Erweiterung des jeweiligen Meinungsportfolios hält.

Reden auf einer Wellenlänge - bis einer die Gegenposition ein nimmt

In Anna Pavlovnas Salon treffen – obwohl alles patriotische Russen – auch entgegengesetzte Positionen aufeinander. Es gibt Streit und Zerwürfnisse. Und in der Gegenwart? Neigt man heute dazu, unbewusst zu filtern? Und wenn man dann auf der gleichen Frequenz spricht, ohne Störgeräusche anderer Weltsichten, fördert das wirklich die Harmonie?

In der Physik gibt es Störfrequenzen in zwei Richtungen, die destruktive Interferenz und die konstruktive Interferenz. In der destruktiven löschen sich die Wellen beim Aufprall aus. Konstruktive Interferenzen hingegen verstärken die Amplituden. Es gibt mehr Minima und Maxima. Mehr Extreme. Zu den Interferenzen kommt es nur, wenn die Wellen verschiedene Längen haben. Bei gleicher Länge gibt es keinen Aufprall, aber auch kein Extrem in die gute Richtung.

Kürzlich war ich bei einem Bekannten zum Essen eingeladen. Fünf Menschen saßen am Tisch, und auch hier gab es eine Art Konsens – unausgesprochene ethische, politische Übereinstimmungen. Also wurde erst auf einer Wellenlänge geredet, über Klatsch und Politik, flankiert von unterstützendem Nicken. Bis einer der Gäste – aus Langeweile? – eine drastische Gegenposition einnahm. Jeder am Tisch wusste, dass es nicht ganz ernst gemeint war, man kannte sich ja. Aber es wirkte: Das Gespräch wurde anregender.

Das griechische harmonia bedeutet Vereinigung, Übereinkunft. Wenn es keine Positionen gibt, die es zu vereinen gibt, wie kann dann Übereinkunft stattfinden?

„Der schlimmste Gast“, sagt Berit Stumpf auf der Bühne, „war mein Großvater.“ Er habe immer mit Geschichten aus dem Krieg genervt und nicht mehr aufgehört. Alle Familienfeste hätten im Streit geendet. „Das würde ich mir mal wünschen“, sagt Florian. „Bei unseren Festen ist immer alles so harmonisch.“

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