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Kultur: Überleben in heiterer Verfassung

István Eörsi denkt in seinen Essays über die Freiheit nach

Einen „Ritter des Widerspruchs“ nennt sich István Eörsi in seinem neuen Essayband „Der rätselhafte Charme der Freiheit“, und es ist mit einiger Sicherheit anzunehmen, dass er dabei auch den Ritter von der traurigen Gestalt im Sinn hatte. Schließlich hat der ungarische Schriftsteller und Essayist ein Faible für Fragen, die „der Form nach humoristisch, dem Inhalt nach tragisch sind“. Freilich, weiß er, der im ungarischen Aufstand 1956 mitkämpfte, „muss man sie aber erst einmal überleben, und zwar in möglichst heiterer Verfassung.“ Das ist István Eörsi allem Anschein nach gelungen.

Mit einer Phantasmagorie über den toten, jedoch aus den Wolken heraus disputierenden Georg Lukács, dessen Schüler und Übersetzer Eörsi war, beginnt das Buch. Die „Versuche über das Neinsagen“, so der Untertitel, sind bis auf zwei bisher ungedruckte zwischen 1985 und 2002 veröffentlicht worden, unter anderem in „Kursbuch“, „Sinn und Form“, „tageszeitung“, „Spiegel“, „Zeit“ und Tagesspiegel. Sie handeln in drei Kapiteln vom ungarischen Stalinismus, von den Jugoslawienkriegen und dem 11. September sowie von den Konsequenzen, die Intellektuelle aus dem Ende der sozialistischen Hoffnungen gezogen haben. Im Nachwort zieht Eörsi desillusioniert seine eigenen.

Die Lanze dieses Ritters ist die Ironie. Eörsi nennt sie eine „Orientierungshilfe“ in einem „an Idealen armen Zeitalter“. Die Ironie verschränke das Tragische und das Komische ineinander, um auf die Differenz von Vorstellung und Wirklichkeit, Mitteln und Zielen, Interessen und Werten hinzuweisen. Die Ironie beerbt die Gesellschaftskritik. Eörsi handhabt sie mal anekdotisch, mal aphoristisch, wenn er etwa seine Inhaftierung 1956 als Teilnahme an der breiten Volksbewegung „Lernen wir die Gefängnisse der Heimat kennen!“ deklariert.

Als Eörsi 1960 entlassen wurde, fühlte er sich wie eine „56 Konserve“, gefüllt mit Widerstandsluft. Immer mal wieder stieß er mit der Partei zusammen, verlor seine Arbeit, erhielt keine Erlaubnis zur Ausreise und 1982 ein Publikationsverbot. Wer die Diskriminierung durch die Politik und den Antisemitismus überlebt, so Eörsi, hat die Chance, sensibel die Diskriminierungen anderer Minderheiten zu registrieren: „Ein guter Mensch bin ich deshalb nicht geworden, doch zumindest drohte nicht die Gefahr, dass ich das Toben der Fanatismen und das weltweite Vordringen des Elends zur Kenntnis nehme mit einem Achselzucken.“

Dank dieses „Glücks in der Verfolgung“ und danach kann Eörsi Groteskes über ungarische Verdrängungen, über Spitzel und die Begeisterung der gewendeten Kommunisten für 1956 zu erzählen. Die „lukrative Resignation“ eines Hans Magnus Enzensberger ist seine Sache nicht, die romantisch-wirren Ergüsse von Heiner Müller oder Botho Strauß, die Eörsi überzeugend nebeneinander stellt, ebensowenig. Er gibt im Nachwort die lang gehegte Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus auf und entschließt sich angesichts der deprimierenden Aussichten für Sozialismus wie Kapitalismus für die siebenfache Verneinung.

Der Hegel-Kenner Eörsi hat den Essayband als Bildungsroman des Geistes konzipiert. Die Freiheit, der er mit einem Blick auf Luis Buñuel einen „rätselhaften Charme“ nachsagt, ist die Freiheit des Heimatlosen.

István Eörsi: Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über das Neinsagen. Aus dem Ungarischen von Anna Gara-Bak u.a. Suhrkamp. Frankfurt a.M. 2003. 196 S., 10 €.

Der Autor liest heute, im Berliner Collegium Hungaricum, Karl-Liebknecht-Str. 9, (19 Uhr, Moderation: György Dalos) und am 14.4. im Literarischen Colloquium (20 Uhr).

Jörg Plath

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