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Kultur: Überlebenstanztee

Natürlich wird gesungen.Ein fromm-schönes Kyrie Eleison verwandelt sich unmerklich in ein erst ebenso getragenes, dann flott geschmettertes "Yes Sir, I can boogie".

Natürlich wird gesungen.Ein fromm-schönes Kyrie Eleison verwandelt sich unmerklich in ein erst ebenso getragenes, dann flott geschmettertes "Yes Sir, I can boogie".Das ist sehr komisch, denn alle stehen stocksteif, so steif, so unbeweglich, daß es wie eine aufdringliche Aktivität erscheint: "Die Spezialisten" - eine neue, nicht mehr steigerungsfähige Kunstform des Marthalerschen Stillstands, wie überhaupt dieses Marthaler-Carp-Viebrock-Projekt, bei aller Vertrautheit einzelner Elemente, rhythmisch durchkomponiert und geschliffen pointiert in ungeahnte Höhen von Komik und Absurdität getrieben wird.In diesem Stück wird nicht geschlafen, hier wird gefallen, angesprungen, getanzt, geturnt, gehockt, gezappt, verkrochen, stillgestanden.

Wo sind wir? In einem befreiend hellen, weiten von Anna Viebrock gestalteten Raum, der auf den ersten Blick wirkt wie ein enormer Schiffsbauch - "Titanic" kurz vor dem Untergang, noch schnell einen Blick geworfen auf die dem Untergang Geweihten.Hinten fern ruht ein großbürgerliches Wohnzimmer, in dem vorgelagerten, großen, oben geschlossenen, elfenbein verschalten Bühnenraum vereinigen sich aufs schönste die Original-Innenleben von Fahrzeugen jeder Art.Links eine Reihe ovaler Flugzeugfenster, darüber Gepäckklappen, in die auch mal Ueli Jäggi gestopft wird.Rechts Zugklappsitze und Zugabfalleimer, im weiten Bühnenraum dazwischen: Halteschlaufen wie im Bus, Gestänge wie in der U-Bahn.Durch die Flugzeugfenster kommt Licht, doch scheint die Viebrocksche Synthese unserer alltäglichen Fortbewegungsmittel bewegungslos.Wieder so ein unentrinnbarer Wartesaal, diesmal von boshafter Eleganz.Die Spezialisten, neun Schauspieler, zwei Tänzer und ein Musiker (Stephan Bissmeier, Eva Brumby, Jean-Pierre Cornu, Judith Engel, Ueli Jäggi, André Jung, Barbara Nüsse, Josef Ostendorf, Karin Pfammatter / Altea Garrido, Thomas Stache / Clemens Sienknecht) haben sich als höhere Angestellte verkleidet.Es wird über Erste-Klasse-Fahrten geplaudert, den schlechten Kaffee, nach dem Speisewagen gefragt.Gefangen im Konferenzwaggon - Spezialisten in Camouflage.Sie singen ein wenig, sie reden davon, daß sie ein 200-Quadratmeter-Büro besitzen, statt produzieren koordinieren, aber nicht wissen was.Sie reden von Zentralperspektive und Fluchtlinien.Werfen kurze Sätze hin über wasserlösliche Gesichtspunkte, Chamäleontechnik für Fortgeschrittene, virtuellen Organisationscharakter, den vergesellschafteten Körper.Es ist in seiner Irrealität sehr real und erschreckend komisch.

An Agentenkauderwelsch, Supervisionsbanalitäten, Managerdeutsch, diversen Anleitungen und brüllend komisch schlechten Übersetzungen, beispielsweise von Japan Airlines, stoßen sich Brocken von Marx und Leibniz, dazu wechselt das Licht wunderbar wischend, gleitend von rechts nach links von blau in grellhell.Der Refrain (ein Auszug): "Wohin fahren wir eigentlich? Ich dachte, wir fliegen.Ich habe keine Perspektive mehr.Man hat mir meine Fluchtlinien gestohlen.Wir haben doch alle keine Fluchtlinien mehr.Haben wir eigentlich Gepäck?" Thomas Stache choreographierte ein irrwitziges Marthaler-Tanztheater aus mißglückten, heftigen Bewegungen, Entäußerungen.Als wären ihre Körper den Menschen fremd geworden, explodieren sie im Raum, prallen gegeneinander, versuchen einen Umgang, eine Form zu finden.Immer wieder hängen Frauen kopfunter an Stangen wie Schlachtvieh, wird jemand wie ein Mantel aufgehängt, stürzen, fallen, hechten sie, akrobatisch-tänzerische Schauspieler einer neuen Art.Eines der Rituale: Paare stehen sich gegenüber, patsch, patsch, Kinderspiel.Mann berührt Busen, Frau berührt Penis, Klatsch, Klatsch, luftige Ohrfeigen hin und her, dann elegant gedehnte Tanzschritte.

Das Possierlichste: die Frauen landen auf beide Hände gestützt auf dem Boden, spielen Schubkarre, die Männer kraulen die Frauenpos, zärtlich.Lachstürme im Publikum.Im Stillstandgelände bewegt sich was: auf Schienen fährt vertikal frontal ein Podest mit zwei Sitzen, mal sitzen zwei angeschnallt, mal stehen alle wie auf einer Fähre und fahren, wohin? Ins Wohnzimmer, zurück.Wiederholen achtmal eine seltsam abgebrochene Familienschuldszene, stoßen mit ihren Gläsern an.Familie - ein Fragment, ein Relikt von früher.Die grüne Schaffnerin / Stewardess Eva Brumby hat eine Fernbedienung und zappt die Szenen um, beispielsweise zum "Kastrations-Comic".Karin Pfammatter läuft mal eben Amok, tritt und haut den Männern scheinbar in die empfindlichen Teile, zu heftiger Geräuschkulisse.Bilder wie von Magritte, Aktionen nicht wie Fernsehen, Videospiel oder Internet, wie aus Alpträumen, zeitversetzt, surreal.Nach einem Kündigungs-Showdown enthüllen sich die Spezialisten mit ihren rührend überflüssigen besonderen Fähigkeiten, wie Stimmen imitieren, Orte riechen, Schlösser öffnen, balancieren.Am eindringlichsten, wenn Josef Ostendorf, Spezialität "kann nichts vergessen", sich an Hamburg in den 30er Jahren erinnert, zwischen Banalitäten wie Zugverspätung und Schwimmbadschließung an die massenhafte Entlassung jüdischer Mitarbeiter von bestimmten Kaufhäusern und Banken, die hochschnellende Konjunktur der Hamburger Wirtschaft durch Arisierung.

Ein Faktum ans andere gereiht, nüchtern, nicht vergessen ...Eine gnadenlos komische, philosophische Text-Collage über die Entspezialisierung des modernen Menschen: von allem ein wenig, flexibel, einsetzbar, austauschbar, scheinbar in rasender Bewegung, in Wirklichkeit stillstehend.Offensichtlich im glücklichen Besitz der Zentralperspektive, haben "Specialiste" Christoph Marthaler, Dramaturgin Stefanie Carp und Bühnenbildnerin Anna Viebrock ins Schwarze treffende Sprach- und Bildmetaphern gefunden für unsere globale Orientierungslosigkeit.Nicht mehr kafkaesk, marthalerisch muß es in Zukunft heißen.

Wieder am 20.2.und 10.3., jeweils 20 Uhr, am 28.2., 14.und 28.3., jeweils 19 Uhr.

ULRIKE KAHLE

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