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Kultur: Überm Berg

Der 30. Geburtstag ist für viele eine Schallgrenze. Danach kommt nichts mehr außer dem Tod, denkt man mit 20. Mit 30 weiß man: Es gibt nur dieses eine Leben.

Als ich in die Großstadt kam, um zu studieren, war ich 19 Jahre alt. Ich kam vom Land, wo man jeden Feldweg kannte, und wo sich in der Werkstatt des Dorfschuhmachers alte Schuhe bis unter die Decke stapelten. Das Haus, in dem wir wohnten, nannten sie Hochhaus, weil es ein Flachdach hatte und vier Stockwerke. Als ich meine langen Haare abschneiden wollte, weigerte sich der Friseur. Er könne das meiner Mutter nicht antun. Der Schuhmacher hatte einen Spitznamen für mich, genau wie der Bäcker. Wir sprachen alle breiten Dialekt.

Jetzt stand ich mit meinem alten Käfer auf einer großen Kreuzung in der neuen Stadt und hatte mich verfahren. Ich sah die Häuser, die alle weit mehr als vier Stockwerke hatten und diese unzähligen Menschen, die über den Platz hasteten. Hier lebte ich jetzt. Hier hatte ich diesen begehrten Studienplatz ergattert. Was würde hier werden? Die Klamotten meiner Kommilitonen waren so modisch wie die von amerikanischen Filmstars, während ich gedacht hatte, cool sei, gerade nicht so auszusehen. Sie fanden meinen Humor etwas derb, versuchten aber, darüber hinwegzusehen. Sie waren irgendwie erwachsener als ich. Ich hatte mir vorgenommen, allein zu leben, diese neue Welt zu durchschauen, sie zu bezaubern und ihre Regeln zu beherrschen. Dafür hatte ich mir sechs Jahre gegeben. Dann würde ich die Stadt mit einem Titel in der Tasche wieder verlassen. Weit unter dreißig und irgendwie berühmt.

Noch vor kurzem hatten meine Freunde und ich unter dem einzigen Standbild der nahen Kleinstadt im Gras gesessen und die Probleme der Welt diskutiert. Wir waren wer, und man kannte uns. Wir hatten eine tausendköpfige Schülerschaft dazu überredet, stillschweigend am Samstag statt zur Schule ins Freibad zu gehen. Alle Lehrer hatten vor leeren Klassenzimmern gestanden, nicht ein Schüler hatte gepetzt. Der Schulsprecher in unserer Mitte war der erste, dem man erlaubte, an der Sprechanlage eine Durchsage zu machen. (Danach nie wieder, weil er mit dem Reden nicht mehr aufhören konnte.) Wir schrieben uns Gedichte und erfanden den Emotionalismus als literarische Gattung. Wir trugen dieselben Jeans und Cordjacken wie unsere Idole aus der Studentenbewegung. Wir hörten Herbert Grönemeyer singen, seine Anna wolle keine dreißig werden. Trau keinem über dreißig. Dreißig werden hieß, erwachsen zu sein, etwas zu haben, das man verlieren konnte, also korrumpierbar zu sein.

Joschka Fischer als Kanzler

Die über dreißig waren und das Sagen hatten, zogen unverständlicherweise risikoreiche Atomenergie der Entwicklung von Solaranlagen vor. Von Ozonloch und Waldsterben wollte keiner hören. Mülltrennung wurde als Zeichen für persönliches Versagen angesehen, denn wer für so was Zeit hatte, der wurde sonst nirgendwo gebraucht. Wir hatten Zeit. Wir hatten die Notfallpläne für den Gau unseres Kernkraftwerks gelesen, in denen stand, man würde im Fall der Kontamination das Gelände im Radius von zwei Kilometern planieren. Wir gingen mit unserer ersten Liebe im Wald spazieren und hatten wenig Dringliches zu besprechen. Wir versuchten, zu ergründen, in was man Vertrauen haben konnte und in was nicht und zogen auch die Umgebung in unsere Betrachtungen mit ein. Die Bäume sahen zwar wunderbar aus, aber sie waren krank, und der Fluss war chemisch verseucht. Wenn die über dreißig diese Katastrophe leugneten, worin logen sie dann noch?

Wir fasteten, um darauf aufmerksam zu machen, wie viele Kinder in der Welt nichts zu essen hatten. Wir fanden unsere Industrienation zu mächtig und ihre Einmischung in Politik und Wirtschaft von Entwicklungsländern unlauter. Wir demonstrierten gegen den Weltwirtschaftsfonds und für erleichterte Haftbedingungen für RAF-Gefangene. Wir solidarisierten uns mit den Schwachen, weil wir auch nichts zu sagen hatten. Aber das würde sich ändern.

Denn wir sahen Joschka Fischer als Kanzler voraus. Wir dachten, unsere Generation sei in absehbarer Zeit zahlenmäßig, also wählermäßig, der jetzigen überlegen. Wenn wir, also Joschka Fischer mit der SPD im Schlepptau an die Regierungsmacht kämen, dann würde der gesamte Schwerlastverkehr auf die Schiene geschickt. Dann würde die Bahn ausreichend subventioniert, wie der Straßenbau schon immer; dann würde Bahnfahren kaum mehr kosten als eine Schachtel Zigaretten. Dann würde dem Wachsen des Ozonlochs Einhalt geboten, und der Ausstieg aus der Atomenergie wäre reine Formsache.

Meine Mutter hatte verschiedene Autounfälle, an denen sie nicht Schuld war. Trotzdem kam sie tränenüberströmt nach Hause. Wir hatten ein Haus, immer gutes Essen, jeder ein teures Hobby und immer gute Kleidung. Was war das Problem an einem verbeulten Auto, das die Versicherung bezahlen würde? Wieso war sie so unter Druck? Wenn die Arbeit und der Haushalt und ihre Kinder und ihre Hobbys sie so in Anspruch nahmen, dass ein paar Beulen am Auto ihre nervlichen Reserven überstiegen, warum machte sie dann alles mit einer solchen Perfektion? Warum musste das Haus immer gar so sauber sein? Warum konnte sie nicht mehr Ruhe bewahren? Schließlich hatten wir doch alles, während die Kinder der Janomami im brasilianischen Regenwald von eingeschleppten Grippeviren dahingerafft wurden. Das waren wirkliche Probleme!

Wir wussten, dass wir Recht hatten. Wir sahen dieses kleine Glühen in den Augen unserer Eltern, wenn wir sie in politische Diskussionen verstrickten. Sie waren trotzig, getroffen und dadurch zu laut. Sie sahen in unserer Kritik ihren Lebensstil in Frage gestellt. Sie waren beleidigt und deshalb leicht in die Enge zu treiben. Sie gingen arbeiten, um uns diesen entspannten Lebensstil zu ermöglichen, den sie selbst nicht gehabt hatten, und wir hatten dafür keine Wertschätzung übrig, sondern Ablehnung. Wir fanden, unsere Mütter hatten zu teure Kleidung und unsere Väter zu große Autos. Sie trafen die falschen Entscheidungen, sie entschieden zu wenig nachhaltig. (Wobei es dieses Wort damals noch gar nicht gab.) Dabei nahmen sie sich zu wichtig. Unsere Väter waren nie da, und wenn sie da waren, waren sie übermüdet, überreizt und überarbeitet. Sie schufteten von morgens bis abends und beteiligten sich dabei an der Unterdrückung eines Teils der Welt, und das konnte nicht gut gehen.

Wir fanden, die viele Arbeit sei eher eine Flucht vor uns denn bloße existenzielle Notwendigkeit. Sie flohen vor unserem Widerspruch. Die Väter flohen vor den Fernseher, wo die Sportschau lief und sie nicht angesprochen werden wollten. Die Mütter flohen in die Küche oder auf den Tennisplatz.

Wenn ich mal groß wäre, dachte ich, würde ich die notwendige Arbeit zwischen Mann und Frau aufteilen. Wir würden den Haushalt gemeinsam machen. Wir würden natürlich beide arbeiten, unsere Arbeit gut gelaunt machen, uns dabei aber nicht überanstrengen, so dass Energie übrig blieb für Familie und Freunde und verbeulte Autos. Heiraten? Nie. Kinder? Später; in einer Art Kommune, in der jeder dieselbe Verantwortung tragen sollte. Geld verdienen? Sicher, viel davon. Aber das konnte doch kein Problem sein. Das würden wir schon schaffen. Mit freier Zeiteinteilung, auf der Basis unserer Originalität, auf keinen Fall jeden Tag von neun bis sieben wie unsere Väter. Und gar Beruf und Familie unter größter Kraftanstrengung unter einen Hut kriegen wie unsere Mütter? Nie! Nie! Niemals!

Ich ging nicht in die Küche, und ich sah auch nicht die Sportschau. Ich ging in mein Zimmer und dachte nach.

Vaters Schecks

Als ich 25 war, trug ich noch immer gerne meine zerrissenen Jeans als Zeichen meiner Ablehnung des Establishments. Ich bombardierte unsere Tutoren mit Fragen, die sie völlig irritierten. Im Grunde verachtete ich Erfolg. Wer mit den Großen, den Geldgebern kooperierte, musste seine Seele an der Garderobe abgegeben haben. Wer ein Herz im Leib hatte, musste bedrückt sein, ob der Zustände in der Welt und konnte sich nicht mit belanglosem Kommerz beschäftigen. Die sich etabliert hatten, hatten die Grenze zur Erwachsenenwelt überschritten. Sie gehörten nicht mehr zu uns. Sie waren keine Künstler. Ich hingegen hielt mich mit Kurzzeitjobs über Wasser. Ich wurde gut bezahlt, aber ich konnte schon morgen arbeitslos sein. Ich war niemandem verpflichtet, und das bewies mir, dass ich noch immer frei war zu sagen, was ich dachte, selbst wenn es mal nicht ganz so klug war.

Manchmal wusste ich nicht mehr genau, was ich denken sollte. Hier war alles so anders. Ich hatte mein Moped, mein Fahrrad, mein Laptop und meinen ersten Internetzugang in Schuss zu halten. Ich musste einkaufen und kochen, meine Schuhe zum Schuster bringen, eine Arbeit fertig stellen, gleichzeitig mein Bankkonto im Auge behalten und mein Studium zu Ende bringen. Die Welt war komplizierter denn je. Dabei wollte ich nichts als meine Arbeit tun. Dasitzen, nachdenken, Schlüsse ziehen. Diese alltäglichen Dinge waren meine Feinde, die mich störten und abhielten von dem, was doch meine Berufung war.

Wenn mir jemand Arbeit gab, die ich gern machen wollte, verlangte ich dafür keine Bezahlung. Schließlich tat er mir mit seiner bloßen Anerkennung einen Gefallen. Er war einer von uns, ein Künstler, wenn er ebenso wenig Geld hatte wie ich.

Ich zog also alle zwei Jahre um, weil ich keinen festen Mietvertrag bekam und zur Untermiete hauste. Ich hatte meinen Dialekt restlos abgelegt und lief mit einem schlechten Gewissen herum, weil es mir nicht gelang, mir treu zu bleiben. Natürlich hatte die Branche bisher mein Talent einfach übersehen. Natürlich war ich besser als mein Bankkonto hätte vermuten lassen. Natürlich war ich nur buchhalterisch eine Niete. Aber ich wollte nicht einsehen, warum ich aus all dem Schlüsse ziehen sollte. Ich hatte noch Zeit. Ich glaubte noch immer, ich könne es zum Diplomaten bringen oder werde als Künstler entdeckt und steinreich, oder der Mann meiner Träume begegne mir im öffentlichen Nahverkehr. Ich dachte nicht, dass ich etwas Bestimmtes tun müsste, sondern dass das Leben für mich entscheiden würde.

Meine Mutter versuchte, mir klarzumachen, dass sie mir alles gegeben hatte, und ich mich nur auf mich selbst zu konzentrieren brauchte, auf das, was ich konnte, statt zu versuchen, all das zu lernen, was ich nicht konnte. Mein Vater versuchte, mir beizubringen, dass er mich nicht bis an mein Lebensende werde mit seinem monatlichen Scheck unterstützen können, und dass ich nicht umhin käme, ein paar unumstößliche Entscheidungen zu treffen. Ich aber reiste viel und sah abgelegene Teile der Erde. Ich versuchte, mich in andere Lebensformen hineinzudenken und erst zu urteilen, wenn ich sie verstanden hatte. Während mein Vater darauf bestand, dass ich für meine Arbeit reell bezahlt werden müsste, bestand ich noch immer darauf, dass ich Künstlerin sei, und dass sich meine verschiedenen Erfahrungen irgendwann auszahlen würden. Wenn mein Leben wirklich beginnen würde. Irgendwann würde es soweit sein.

Als ich dann dreißig war, verstopfte noch immer Schwerlastverkehr die zweispurige A8, und Bahnfahren war so teuer wie nie zuvor. Der Atomausstieg lag in unerreichbarer Ferne. Doch mir war das völlig gleichgültig. Ich hatte meinen leeren Kühlschrank als mein eigenes Problem erkannt und mich entschieden, dafür zu sorgen, dass er voll war. Denn plötzlich wollte ich sicher wissen, was morgen sein würde. Ich war auf diesen Hügel geklettert, auf dem groß „dreißig“ stand, und sah runter in ein leeres Tal. Das Leben war gar nicht zu Ende, wie wir damals unter unserem Standbild gedacht hatten. Es musste weiter gelebt werden. Ich wusste plötzlich, wenn ich so weitermachte wie bisher und darauf vertraute, dass sich alles von allein regeln würde, würde ich den Horizont nicht gut erreichen.

Meine alten Freunde lebten in festen Partnerschaften. Die meisten hatten Kinder. Alle verdienten ausreichend Geld, um sie zu unterhalten. Die meisten arbeiteten dafür von neun bis sieben. Sie machten sich fast keine Gedanken mehr darum, dass nun tatsächlich Joschka Fischer zwar nicht Kanzler, doch aber Außenminister geworden war und die Welt sich trotzdem kaum verändert hatte.

Und plötzlich wollte auch ich eine Lebensversicherung, ein eigenes Auto, eine gute Wohnung, eine Perspektive. Alles Klagen würde auf Dauer nicht helfen. Wenn ich nicht lernte zu rechnen oder nicht im Stande war, meine Branche von meinem Talent zu überzeugen, würde es keinen anderen Ausweg geben, als die Branche zu wechseln und mir eine andere zu suchen. Ich versuchte also, die Arbeit gut zu machen, die man mir gab und fertig. Damit ließ ich den Markt mitbestimmen. Wenn man mich die großen Aufträge nicht machen lassen wollte, machte ich eben die kleinen. Ich hatte verstanden, dass man mir vertrauen können musste, um mich ernst zu nehmen. Ich hatte mich dazu entschlossen, am Spiel teilzunehmen.

Seither ist ein Auftraggeber kein Vertreter des Establishments mehr für mich, sondern bloß einer, der auch seine Miete bezahlen will, und den ich von mir überzeugen muss.

Gleichzeitig kaufe ich ein und koche, und wenn ich abends nach Hause komme, schaue ich mir die Sportschau an, die jetzt wieder so heißt, und will dabei nicht gestört werden. Ich nehme den Strom, wie er aus der Steckdose kommt, und denke keine Minute darüber nach, wie man ihn herstellt. Ich weiß nicht, ob es noch Janomami im brasilianischen Regenwald gibt, weil ich versuche, morgens rechtzeitig in der Krippe zu sein und noch schnell einen Kuchen zu backen, wenn das verlangt wird.

Andere Aufgaben

Seither verstehe ich die Sorgen, die meine Eltern früher hatten und die jetzt meine sind. Zum ersten Mal frage ich mich, warum ich meine Mutter damals wegen des Autos nicht getröstet habe. Schließlich hatte ich gern in einem sauberen Haus gelebt, in dem immer das Essen zum richtigen Zeitpunkt auf dem Tisch stand und die Wäsche gebügelt im Schrank lag.

Ich sah ein, dass ich selbst keine acht Leben haben würde, sondern nur eins. Dass ich sterblich war. Ich musste mich für eine Option entscheiden, selbst wenn ich damit riskierte, all die anderen zu verspielen und ich würde überhaupt nur irgendwo ankommen, wenn ich meine Angelegenheiten selbst in die Hand nahm.

Ich gehöre jetzt also zu den Alten. Denn es stimmt genau: Wir sind alle korrumpierbar. Wenn wir Geld verdienen können, machen wir es. Wenn es um viel Geld geht, machen wir es noch lieber. Wir nennen das Professionalität. Denn meine Aufgaben haben sich verändert. Meine zwei Jahre alte Tochter fordert die Erfüllung ihrer Wünsche jetzt, sofort und in vollem Umfang. Sie will auf einem Pferd reiten, das Meer sehen und ihrer Tante einen Kuss geben, die 300 Kilometer weit weg am Schreibtisch sitzt. Wenn ich mich mit geschlossenen Augen aufs Bett lege, kann ich sie mit 16 sehen und mir vorstellen, wie sie mich triezen wird, wenn sie die Notfallpläne unseres Kernkraftwerks in die Finger kriegt. Ich gebe ihr, was ich kann. Kleiner werden ihre Wünsche von allein.

Tanja Frank

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