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Cover des Ulla-Hahn-Bildungsromans

© Verlag

Ulla Hahns neuer Roman: Mao, Marx und Marihuana

Ulla Hahn schreibt mit „Spiel der Zeit“ ihr autobiografisches Bildungsepos fort.

Wie schwierig eine katholische Kindheit und Jugend in den Adenauer-Jahren war, lässt sich Nachgeborenen, die die Enge und Strenge des Klerikalismus und seiner Milieus im Wirtschaftswunderland nicht mehr kennengelernt haben, kaum noch erklären. Erst heute gelangt Verdrängtes und Verschwiegenes – bis hin zu Missbrauchsfällen – an die Öffentlichkeit. Oft nicht durch die Opfer selbst, sondern durch literarische Zeitzeugen, in deren autobiografischen Berichten sie sich wiederfinden. Den Anfang machte 1962 – Adenauer war noch Kanzler – der Schriftsteller und spätere Filmemacher Ulrich Schamoni, bei Verwandten im stockkatholischen Münster aufgewachsen, mit seinem Roman „Dein Sohn lässt grüßen“, der damals prompt als jugendgefährdend indiziert wurde.

Ein halbes Jahrhundert später ist es auch der als Dichterin bekannt gewordenen Ulla Hahn, 1946 im Sauerland geboren, ein Bedürfnis, in autobiografisch gefärbten Romanen die Leiden ihrer „gut katholischen“ Vergangenheit auszubreiten. Auf „Das verborgene Wort“ (2001), nach dessen Erscheinen sie bekannte, sie habe das Buch nur geschrieben, um es fortsetzen zu können, folgte 2009 „Aufbruch“. Inzwischen ist mit dem dritten Band „Spiel der Zeit“, wieder auf 600 Seiten, eine Trilogie entstanden, deren Hauptperson Hilla Palm sich immer klarer als Ulla Hahn zu erkennen gibt.

Als reife Autorin nimmt sie sich die junge Frau noch einmal vor. So tief sitzt die Obsession (aber entsteht Literatur jemals ohne Obsessionen?), dass sie trotz vernichtender Kritiken selbst ihres Förderers Marcel Reich-Ranicki an der Vollendung ihres Bildungsromans weitergeschrieben hat und womöglich noch einen vierten Band plant.

Denn die neuerliche Verwandlung ihrer „säkularisierten Märtyrergeschichte“, wie es in der „NZZ“ hieß, in die Heilsgeschichte einer Erlösung durch vollkommene Liebe ist so überhöht, dass da noch ein Absturz kommen muss. Das Leben der 1968-er Studentin Hilla und ihres leicht buckligen Gefährten Hugo (in dessen Buckel sich freilich Engelsflügel verbergen), kann mit Mitte zwanzig noch nicht zu Ende sein. Nur im Kino wird nach dem Happy End, wie Kurt Tucholsky reimte, gewöhnlich „abjeblendt“.

Diesmal geht es um die sexuelle Revolution, Haschparties und Debatten über das Geschlechtsleben auf dem Kirchentag

Diesmal geht es um das Heraufziehen der sexuellen Revolution, um Haschparties und Debatten über das Geschlechtsleben auf dem Kirchentag. Auch für eine verdrängte Vergewaltigung und den Missbrauch durch einen Kaplan findet sie klare Worte und ihre persönliche Wahrheit. Sitzblockaden, Ostermärsche und Demonstrationen erlebt die Studentin, in Köln zwischen ihrem katholischen Wohnheim und der sturmfreien Bude ihres Freundes pendelnd, als teilnehmende Beobachterin.

Davon berichtet sie in dichtem, atmosphärisch geladenem Reportagestil, während die Schüsse auf Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke im fernen Berlin nur wieder referiert werden (können) – unnötige Längen ohne Erkenntniswert. Das gilt auch für die Endloszitate studentischer Parolen und die als Running Gag variierten und parodierten Zitate aus Maos rotem Buch, die die Erzählperspektive auflockern sollen, aber als Kalauer ankommen. Wortspiele der Zeit! Das schon von Walter Kempowski („Uns geht’s ja noch gold“) erprobte Rezept ist allerdings so effektiv, dass Ulla Hahns Romane auf Anhieb fünfstellige Auflagen erreichten.

Da dieser dritte Band ihres Bildungsromans im Herbst 1968 endet, in dem in Düsseldorf die DKP gegründet wurde, bleibt Ulla Hahn noch immer die Antwort schuldig, die sie Volker Hage im „Spiegel“ 2001 für die Fortsetzung des ersten versprochen hat: „Wie konnte es möglich sein, dass ich, wenn auch nur für einige Zeit, in der DKP landete? Das wollte ich mir erzählend erklären – die Geschichte der Kindheit war ursprünglich als Auftakt gedacht. Da bin ich aufgehalten worden. Das werde ich wieder aufgreifen.“

Sind wir darauf nach 1800 Seiten wirklich noch immer gespannt? Die zwei möglichen Erklärungen – eine vulgärmarxistische und eine tiefenpsychologische – liegen nach der ausführlichen Exposition auf der Hand: Ist es Hillas erwachendes Klassenbewusstsein als Arbeiterkind, das sich sowohl von der kleinbürgerlichen Enge zu Hause wie von der großbürgerlichen Familie ihres als Schwarzes Schaf seiner Klasse abtrünnigen Verlobten emanzipiert? Oder ist es die Suche des von der väterlichen und kirchlichen Autorität enttäuschten Kindes nach einer neuen Glaubensautorität in der allein selig machenden Institution, der Deutschen Kommunistischen Partei?

Wie auch immer – es wuchert nach allen Richtungen. Die Bändigung des Stoffes gelingt Ulla Hahn doch auch in ihren besten Gedichten. Eines davon, „Durchs Dorf“, in ihrem vierten Gedichtband „Unerhörte Nähe“ (1988) lässt die Antwort in einfachen Bildern ahnen. Das Kind geht „vorbei / am übermannshohen Zaun / der Villa vom Schnapsfabrikanten / der führte seinem Nachwuchs / einmal im Jahr zum Spielen / auch Arbeiterkinder zu. / Weiter vorbei / an der Burg hinter Stacheldraht / im streng verbotenen Park / wo der Freiherr den Hund /auf uns hetzen ließ.“ Noch zweimal geht sie weiter und findet „zurück / in das kleine Haus zwischen großen / Die Frau darin freute sich neun Monate lang auf mich / Wo bleibst du so lang fragt sie / Jetzt ist der Kaffee kalt.“ So lange sollte sie ihre Leser nicht warten lassen.

Ulla Hahn: Spiel der Zeit. Roman. DVA, München 2014. 608 Seiten, 24,99 €.

Hannes Schwenger

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