zum Hauptinhalt
Identifikationsfigur. Zieglers Helden gehen gern ins Kino – um zum Beispiel Max Schreck zu sehen, hier in „Nosferatu“.

© imago/United Archives

Ulrich Ziegers neuer Roman: Durchzug eines Regenbandes: Schreck und der Schlager

Zehn Jahre hat er sich vor der Welt versteckt. Nun legt Ulrich Zieger einen fantastischen Roman vor. In „Durchzug eines Regenbandes“ regnen silberne Fische vom Himmel und Nosferatu entsteigt erneut dem Sarg. Was auf den ersten Blick verzweifelt retroperspektiv erscheint, ist auch so gemeint.

Man kennt solche unerhörten Begebenheiten aus mythischen Zusammenhängen. Es regnet Heuschrecken, es fallen plötzlich Frösche vom Himmel wie in Paul Thomas Andersons Film „Magnolia“, oder es setzt – wie in Ulrich Ziegers rätselvollem Roman „Durchzug eines Regenbandes“ – ein großer Fischregen ein, und die Straßen sind „über und über mit silbern glänzenden Fischen bedeckt“. Die literarische Einbildungskraft dieses Autors sprengt alle Ordnungen. Der seit vielen Jahren in Südfrankreich lebende Zieger, der in der späten DDR zu den Exponenten der subversiv gestimmten Prenzlauer-Berg-Szene gehörte, hat einen Roman vorgelegt, der wie ein erratischer Block in der Landschaft der deutschen Gegenwartsliteratur liegt.

Surrealismus, befreit von den Fixpunkten des Alltags, schwebend und schön

Schon 1989 hatte sich der Einzelgänger aus Berlin nach Südfrankreich zurückgezogen und einen eigenständigen Surrealismus entwickelt, der die Dinge aus den Koordinaten der Alltagsvernunft befreit und in wundersame Schwebezustände versetzt. In Montpellier entwarf Zieger das Drehbuch für den Wim-Wenders-Film „In weiter Ferne, so nah!“. Ende der 1990er Jahre verschwand er für einige Jahre von den Bühnen des Literaturbetriebs. Als Zeugnis seiner poetischen Kunstfertigkeit blieb der 1992 publizierte Band „Große beruhigte Körper“ – Versprechen auf eine Dichtkunst von suggestiver Schönheit.

Das neue Buch von Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes hält sich nicht lange mit der Gegenwart auf. Sehnsuchtsort ist das unwiederbringlich Vergangene.
Das neue Buch von Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes hält sich nicht lange mit der Gegenwart auf. Sehnsuchtsort ist das unwiederbringlich Vergangene.

© promo

Auf den 683 Seiten seines neuen Romans, an dem Zieger zehn Jahre gearbeitet hat, scheint sich nun alles in eine märchenhafte Szenerie zu verwandeln. Der Strom der Assoziationen und Einfälle treibt die lineare Erzählung immer wieder auf Abwege. Über die drei großen Kapitel des Romans gebietet eine filmische Fantasie, wie sie der Protagonist des ersten Teils, ein Journalist namens Norden, für sich in Anspruch nimmt: „Das Kino hat uns viel gezeigt, von dem das Leben uns auf arge, ahnungsvolle Weise immer fernhielt ...“ Verfallende Lichtspieltheater, in denen nur Filme bis zum Jahr 1978 laufen, gehören denn auch zu den zentralen Schauplätzen des Buches. Die Romanhelden sind sämtlich große Kinogänger, die ihre Visionen des Daseins aus den großen Filmklassikern der zwanziger und dreißiger Jahre beziehen, oder aus den Trivialmythen der ZDF-Dauerbrenner „Der Kommissar“ und „Derrick“. Die wichtigste Identifikationsfigur ist dabei Schauspieler Max Schreck, der Darsteller des Vampirgrafen Orlok in Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu“-Film.

Die "Lapislazuli" tragen Papier als Kleidung und der Erzähler gesteht einen Mord

Die Freiheit der fantastischen Filmkunst reklamiert Zieger auch für sein Erzählen. So adaptiert er spätromantische Stilhaltungen, jongliert mit dem Doppelgängermotiv E. T. A. Hoffmanns und den gravitätischen Satzperioden Adalbert Stifters. Auf den 170 Seiten des ersten Kapitels lässt er einen mysteriösen Fremden mit dem Namen „Weh-Theobaldy“ die wundersame Geschichte der Insel Bienitz und ihrer Hierarchien erzählen. Der soziale Aufbau gleicht einer Sklavenhaltergesellschaft, in der etwa die Volksgruppe der „Lapislazuli“ Papierkleidung tragen muss. Am Ende seiner Suada bezichtigt sich der Fremde eines Mordes. Dieser vielleicht nur erfundene Mord wird zum Ausgangspunkt epischer Ab- und Ausschweifungen und bizarrer Spekulationen.

Der zweite und mit Abstand intensivste Teil des Buches spielt in einer DDR-Kleinstadt unweit von Dresden im Jahr 1969. Mit Liebe zum Detail wird die realsozialistische Lebenswelt dieser Jahre ausgepinselt – die utopischen Energien dieser DDR-Bürger wandern hier ab in die Welt der westdeutschen Schlager- und Unterhaltungsästhetik. Der Held dieses zweiten Teils ist ein Schlagersänger, der mit Coverversionen von Drafi Deutscher und Udo Jürgens durchs Land tingelt. Auch hier wird einer unerhörten Begebenheit nachgeforscht, dem Verschwinden einer alten Dame, die nach einem Unfall im Kohlenkeller ihres Hauses verschollen ist, ohne wieder aufzutauchen. Die Fantasy-Motive vom Auffinden obskurer Höhlen und Geheimgänge verbinden sich hier mit einer fesselnd erzählten Familientragödie.

Es bleibt die Fantasy, wenn die Vergangenheit nicht wieder Gegenwart werden will

Im dritten Teil des Romans, in dem ein exzentrischer Maler im Mittelpunkt steht, lässt sich Zieger dann vollends von jenem „dionysischen Schwung“ mitreißen, der für seine trinkfreudigen Helden Lebenselixier geworden ist. Am Anfang steht das Grimm’sche Märchen vom armen Mädchen, das zur bösen Frau Trude geht und von ihr in ein Stück Holz verwandelt wird. Den Roman beschließt eine handschriftliche Aufzeichnung des ominösen Herrn Mokosch. Sie protokolliert das Grimm’sche Märchen vom Herrn Korbes, der von einem Mühlstein erschlagen wird.

Auf den vielen, mitunter ermüdenden Seiten dazwischen erteilt sich Ulrich Zieger die Lizenz zur großen erzählerischen Träumerei. Das aus den Tiefen der Kino-Mythen und der deutschen Märchenwelt schöpfende Erzählen nimmt dieser Autor wichtiger als die Nähe zur Gegenwart. „Ich war ein Virtuose“, heißt es auf den letzten Seiten, „der in seinem Wetterhäuschen blieb, ein notorischer Wolkenumdreher, der mit den Lippen auf Sternen ging. Ein Stadtrandbewohner in Gummistiefeln, ein Traumtänzer mit einem Zinkeimer auf dem Kopf.“ Ulrich Ziegers emphatische Künstler-Romantik hat etwas verzweifelt Retrospektives. Sie will etwas festhalten, was unwiederbringlich verloren ist.

Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015. 683 Seiten, 26 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false