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Stachel des Autobiografischen. Ulrike Draesner bearbeitet ihre Familiengeschichte.

© Jürgen Bauer/Luchterhand

Ulrike Draesners Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“: Wörter, die auf Reisen gehen

Hommage an Breslau: Ulrike Draesners Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ ist ihr persönlichstes Buch.

"Wirft uns das Bier auch nieder, wir trinken morgen wieder": Dieser schwungvolle Slogan ist von der Selter- und Limonadenfabrik Paul Draesner überliefert, aus Oels in Schlesien, Ring 34, Fernsprecher 23, Postscheckkonto Breslau 28970. So wie Alfred Hitchcock in jedem seiner Filme einen sekundenkurzen Auftritt, ein Cameo, absolvierte, so lässt Ulrike Draesner auf Seite 344 ihres neuen Romans ein Erinnerungsstück an die Brauerei ihrer Familie auftauchen, nämlich „die schilffarbene Flasche mit dem erhabenen, aus Glas gepressten Namenszug“. Heute ist die Brauerei Draesner Geschichte, einer jener „Namen, die keiner mehr nennt“, wie Marion Gräfin Dönhoff 1962 ihre Erinnerungen an Ostpreußen überschrieb.

Das Gefühl, dass mit der eigenen Existenz etwas nicht stimmt, beschäftigte Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, schon als Kind. Ihr Vater war im Januar 1945 als Halbwüchsiger aus Schlesien geflohen. Vertriebenenverbände waren ihm suspekt, deshalb zog er sich mit anderen Landsleuten ins „unsichtbare Wohnzimmer“ zurück. Dort lauschte die Tochter einer unbekannten östlichen Mundart und versuchte sich vorzustellen, wie ein angeblich untergegangenes Land aussehen könnte. So reifte über Jahrzehnte der Plan zu Draesners persönlichstem Buch.

Er wird von einer eigenen Website begleitet (www.der-siebte-sprung.de). Auf ihr findet sich unter anderem ein „Lexikon der reisenden Wörter“ – eine schöne Idee, wenn auch mit Tendenz zum Pädagogischen. Sieben Personen suchen einen Ort, könnte man die Anlage dieses überbordenden, vier Generationen umfassenden Geschichtspanoramas beschreiben. Im Zentrum stehen die 52-jährige Verhaltensforscherin Simone Grolmann und deren knapp 83-jähriger Vater Eustachius, genannt Stach oder Stächelchen, habilitierter Zoologe und eine nach wie vor aktive Koryphäe der Primatenforschung. Des „Affenprofessors“ Eustachius wahrer Liebling aber ist seine Enkelin Esther. Auch bei ihr handelt es sich um eine Überfliegerin, die beim Anblick eines Seidenreihers diesen sofort vor ihrem inneren Auge mit der Abbildung in Wikipedia abgleicht.

Draesner zeigt, wie Kriegserlebnisse generationenübergreifend weiterwirken

Simone kam genau 17 Jahre nach jener verschneiten Januarnacht zur Welt, in der sich Eustachius mit seiner Mutter Lilly und dem geistig behinderten Bruder Emil auf den Weg nach Westen machte. Emil, der immer die schwarzen SS-Uniformen bestaunt hatte und bereits als Euthanasie-Opfer begutachtet worden war, kam auf der Flucht zu Tode.

Die näheren Umstände haben sich als drückendes Geheimnis über Eustachius und seine Nachkommen gelegt. Simone, sonst so couragiert, hat eine unerfindliche Angst vor Schnee. Sie leidet offenbar unter einem Trauma aus zweiter Hand, einer Phantombelastung – in genau dem Maße, in dem Eustachius’ Erfahrungen mit Menschen ihn die Gesellschaft von Schimpansen und Schildkröten suchen ließen. Die Autorin wählt das Stilmittel der lyrischen Verknappung, um darzustellen, wie Kriegs- und Gewalterlebnisse generationenübergreifend weiterwirken. Auf der Gegenwartsebene des Romans übertreibt sie damit allerdings gehörig. Das mit Espressomaschinen im Wert von 1700 Euro ausgerüstete Leben der Erfolgsmenschen Simone & Co. erscheint als einzige Hyperbel. Das enerviert und wirkt unfreiwillig komisch. „Sie machten sich wahnsinnig Mühe“, heißt es einmal symptomatisch.

Den sieben Hauptpersonen, darunter der polnische Psychologe Boris, sind Schmuckzeichen aus der Affensprache Yerkish zugeordnet. So bezeichnet das Zeichen für „mouth“ Simone, „hand“ steht für Eustachius und „chase“ für Vater Hannes, den schlesischen Bankdirektor und Teilnehmer an zwei Weltkriegen. Der Roman blendet weit in seine Kindheit zurück, wobei einzelne Grausamkeiten wie die Misshandlung eines Vogels als unheimliche Vorausdeutungen einer alles mit sich reißenden Gewalt hervorstechen.

Hannes’ innere Monologe sind die interessantesten, da historisch am stärksten unterfüttert. Ulrike Draesner recherchierte so lange in Breslau/Wrocław, bis sie ein topografisches „Laufgefühl“ entwickelt hatte. „Breslau war modern, klar, stolz“, beschreibt Hannes seine Heimatstadt, einst eine Spielwiese modernistischer Architekten wie Hans Poelzig oder Max Berg, der dort 1911 die Jahrhunderthalle mit ihrer riesigen, frei tragenden Kuppel konzipierte: „Eine frei hängende Stahlbrücke sollte sich über die Oder spannen. Im strahlenden Inneren von Wertheim fuhr ich auf der ersten Rolltreppe Deutschlands in luftige Höhen.“

Wie thematisiert man als Vertreterin der Enkelgeneration Trauer und Schmerz über den Verlust eines deutschen Kulturraums, ohne sich dem Revanchismus-Verdacht auszusetzen? Ulrike Draesner hat für dieses Kernproblem ihres Buches eine plausible Lösung gefunden: Sie kontrastiert das Schicksal ihrer deutschen Vertriebenen mit dem einer ostpolnischen Familie, die nach der von Stalin dekretierten Westverschiebung des polnischen Staatsgebietes 1945 nach Breslau zwangsumgesiedelt wurde.

Als die junge Halka aus Lemberg (heute ukrainisch) in dem Mischwesen „Breslaw“ eintrifft, findet sie „ein postdeutsches Schwimmbad und eine postdeutsche Oper“ vor, „trotzig und deutsch, Trümmerwelt“. Diese deskriptiv-sinnlichen Passagen wirken höchst überzeugend, bis hin zum Aschegeruch der zurückgelassenen Wäsche. Jahrzehnte später wird Simone mit Halkas Sohn Boris ein Verhältnis beginnen. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, wird sich Ulrike Draesner mit Goethe beim Verfassen ihres Romans gedacht haben. Das gelingt ihm trotz Einwänden in der Tat – vor allem aber feiert er den Geist und die wiederauferstandene Schönheit „Breslaws“.

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2014. 560 Seiten, 21,99 €.

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