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Zur Recherche ausschwärmen, zum Schreiben nach Hause. Umberto Eco in seiner Mailänder Wohnung im März 2011.

© Eric Vandeville/laif

Umberto Eco: Die Sehnsucht nach Verschwörungen

Umberto Ecos neuer Roman "Der Friedhof von Prag" ist randvoll mit Verschwörungen und Komplotten. Seine Erklärung: "Die Leute sehnen sich nach Verschwörungen."

Herr Eco, in Ihrem neuen Roman „Der Friedhof in Prag“ geht es um Fälscher und Fälschungen. Sie scheinen eine Schwäche für dieses Thema zu haben.

Ich war tatsächlich immer fasziniert von Fälschungen, übrigens auch von der Lüge. Lügen ist ja ein fundamentaler Aspekt der Kommunikation. Es ist ein Sprechen über mögliche Welten, über nicht existierende Welten. Über reale Welten kommunizieren kann auch ein Hund. Aber ein Hund kann eben nicht lügen.

Sie besitzen eine bedeutende antiquarische Sammlung von Fälschungen.

Ja, es handelt sich um eine semiologisch-kurios-launenhaft-magische- pneumatische Bibliothek. Mit pneumatisch meine ich okkulte Schriften. Insgesamt geht es mir ausschließlich um Bücher, die Fälschungen sind. Zum Beispiel habe ich ein Buch des Astronomen Ptolemäus, in dem er allerdings nicht gelogen, sondern sich nur geirrt hat. Er glaubte einfach, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Einen Galileo, der die Wahrheit gesagt hat, besitze ich dagegen nicht.

Was reizt Sie daran, solche Kuriositäten zu besitzen?

Es gibt Menschen, die davon fasziniert sind, Schmetterlinge zu sammeln. Um sie zu sammeln, töten sie die Schmetterlinge. Ich töte niemanden!

Haben Sie in ihrem Leben schon einmal selbst etwas gefälscht?

Ja, in Form einer Parodie. Zum Beispiel in „Platon im Striptease-Lokal“ oder in den „Streichholzbriefen“. Es waren aber explizite Fälschungen.

Was gehört zum Wesen einer bedeutenden Fälschung?

Überraschenderweise sind Fälschungen oft gar nicht als Fälschungen konzipiert, sondern als Übung des Könnens. So scheinen die Konstantinischen Schenkungen als rhetorische Fingerübung geschrieben worden zu sein. Dann sind sie jemandem in die Hände gefallen und der hat sie für wahr gehalten. Die Fälschung wird dann zur Fälschung, wenn sie jemand für echt hält. Andernfalls handelt es sich nur um einen Spaß. Ich habe auch ein Werk über die Frage geschrieben, wie Fälschungen die Geschichte verändert haben. Die erwähnten Konstantinischen Schenkungen etwa haben praktisch die Macht des Kirchenstaates begründet. Bereits im 16. Jahrhundert wurden sie als Fälschung enttarnt, aber da waren die Würfel schon gefallen. Zu den Fälschungen, die Geschichte gemacht haben, gehören natürlich die Protokolle der Weisen von Zion.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, ob Ecos Buch Bezüge zur aktuellen Lage in Italien enthält.

Jenes Dokument, das eine jüdische Weltverschwörung beweisen sollte. In Ihrem Roman erfinden Sie die Entstehungsgeschichte dieses antisemitischen Pamphlets.

In den Protokollen ist die Rede von einem Geheimstaat der Juden, der Komplotte schmiedet, um die Weltherrschaft zu erringen. Sie sind eine schwache, ja dumme Fälschung, voller Ungereimtheiten. In meinem Roman zeige ich, dass sie sich aus widersprüchlichen Elementen zusammensetzen. Einmal heißt es dort, unter den Arbeitern solle der Alkohol verbreitet werden, dann wieder heißt es, er soll verboten werden, wenn die Juden erst einmal an der Macht sind. Die Protokolle kommen einerseits als uraltes Dokument daher, dann wieder ist von zeitgenössischen Ereignissen wie dem Bau der Pariser Metro die Rede. Eigentlich kann niemand diese Protokolle ernst nehmen.

Für wie groß halten Sie den Einfluss der Protokolle auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts?

Ich behaupte natürlich nicht, dass die Shoah von den „Protokollen“ verursacht wurde, aber um ihre Bedeutung zu ermessen, reicht es, „Mein Kampf“ zu lesen. Hitler sagt dort, die „Frankfurter Zeitung“, die er als jüdisch bezeichnet, versuche jeden Tag zu beweisen, dass die Protokolle gefälscht seien. Eben das sei der Beweis für Ihre Echtheit. Mich hat stets schockiert, dass, nachdem die Protokolle 1921 von der Londoner „Times“ als Fälschung enttarnt wurden, sie von den Verschwörungstheoretikern für umso authentischer gehalten wurden. Der Skandal ist also nicht, dass sie hergestellt wurden, sondern dass sie ernst genommen wurden, auch, nachdem man nachgewiesen hat, dass sie gefälscht sind.

Haben die Protokolle der Weisen von Zion heute noch eine Relevanz?

In den arabischen Ländern sind sie ein Schlüssel für die antiisraelische Politik und stehen dort in vielen Bibliotheken. Wenn Sie bei uns in eine Buchhandlung für New-Age-Literatur gehen, dann finden sie die Protokolle ebenfalls.

Es geht in Ihrem Roman um Verschwörungen und Komplotte, vor allem um die Paranoia des Komplotts. Für einen italienischen Autor liegen damit aktuelle politische Bezüge auf der Hand.

Das Komplott ist eine Einrichtung, die den Menschen hilft, ihre Niederlagen zu rechtfertigen. Ein Komplott zu behaupten bedeutet: Es ist nicht meine Schuld, sondern die Schuld einer geheimen Macht. Die Protokolle behaupten ein Komplott der Juden. Über die Twin Towers heißt es, sie seien von Juden zerstört worden, aber auch Bush und die CIA könnten es gewesen sein. Und was macht Berlusconi? Die Kommunisten gibt es nicht mehr und die, die sich Kommunisten nennen, haben nichts mit dem klassischen Kommunismus zu tun. Dennoch stützt Berlusconi seine gesamte Propaganda darauf, dass Italien vor den Kommunisten gerettet werden müsse. Und es funktioniert, weil die Leute das Komplott brauchen. Schauen Sie, wenn sie am Samstagnachmittag auf der Autobahn in einen riesigen Stau geraten, fragen Sie als erstes: Wer hat Schuld? Aber wenn Sie nicht mit allen anderen am Samstagnachmittag auf der Autobahn fahren würden, gäbe es keinen Stau.

Sprechen wir über den Fälscher Simonini, Ihre Hauptfigur, den Sie zum Autor der Protokolle machen. Was ist er für ein Typ?

Mit Simonini wollte ich eine möglichst widerliche Person schaffen. Er verkörpert all die rassistischen Vorurteile seiner Zeit. Er ist ein hemmungsloser Fälscher. Nachdem meine Frau den Roman gelesen hat, sagte sie, sie habe nun verstanden , warum ich in den letzten Jahren so böse geworden sei. Ich glaube, ich habe mit Simonini die vielleicht abstoßendste Figur der Literaturgeschichte geschaffen. Zum Beispiel lasse ich ihn jede Menge essen. Essen ist für ihn Sexersatz. Jedes Gericht, das ich nenne, ist exquisit. Aber isst man all die Sachen an einem Abend oder auch nur in einer Woche, sind sie zum Erbrechen. Nur in Frankreich hat man diesen Aspekt allerdings missverstanden, man fand ihn positiv.

Auf Seite 3 können Sie lesen, wie authentisch Ecos Buch ist.

Man fragt sich, was treibt jemanden wie Simonini an, sich so besessen auf das Handwerk des Fälschens zu werfen?

Es gibt mindestens zwei Tageszeitungen in Italien, die an Berlusconi gebunden sind, die jeden Tag falsche und niederträchtige Nachrichten verbreiten. Was für ein Motiv haben ihre Direktoren, das zu tun? Simonini bekam viel Geld für seine Fälschungen. Schließlich gibt es Leute, die für Geld zum Serienmörder werden. Es gibt Leute, die die eigenen Freunde anzeigen. Es gibt Leute, die alte Frauen erdrosseln. Warum sollte es nicht einen geben, der Fälschungen herstellt, nur um zu leben?

Wie authentisch ist das, was Sie erzählen?

Ich habe das Bestreben, dass all das, was ich erzähle, historisch korrekt ist. Die einzige erfundene Figur ist Simonini, aber auch er tut Dinge, die sich tatsächlich ereignet haben, und so ist auch er gewissermaßen eine wahre Figur. Wenn meine Figuren den Mund öffnen, dann setze ich das in Gänsefüßchen. Denn sie sagen Dinge, die tatsächlich gesagt worden sind. Die Geschichte, die Realität ist ja stets romanhafter als die Fantasie. Sie arrangieren eine Begegnung zwischen ihrem Protagonisten und Sigmund Freud. Was hat Ihnen daran gefallen? Vor allem, dass Freud in dieser Zeit noch gar nicht an seine psychoanalytische Theorie gedacht hat. Er beschäftigt sich nicht mit Sexualität, sondern schreibt ein Buch über Kokain, mit dem er, so glaubte er, viele Krankheiten heilen könne.

Ihr Roman ist wieder prall von historischen Fakten. Die Recherche scheint ein wesentlicher Teil Ihres Schreibens zu sein.

Ich brauche fünf oder sechs Jahre, um die Recherchen abzuschließen. Es ist eine Arbeit, die mir gefällt, ja das Recherchieren war ein Grund, warum ich überhaupt begonnen habe, Romane zu schreiben. In diesem Fall ging es um das Paris des 19. Jahrhunderts. Ich bin also nach Paris gefahren, um die Straßen wiederzufinden, die nicht von Haussmanns städtebaulichen Veränderungen berührt wurden.

Machen Sie diese Vorarbeiten eigentlich allein oder haben Sie Mitarbeiter?

Niemals. Warum sollte ich den anderen diesen Spaß überlassen?

Besuchen Sie Bibliotheken, um Ihre historischen Nachforschungen zu machen?

Niemals. Ich habe alle Bücher zu Hause!

Ist Ihr Roman ein Aufklärungsprojekt, das mit einer antisemitischen Lüge aufräumen soll? Ist es noch immer notwendig, der Welt zu sagen, dass die Protokolle der Weisen von Zion Fälschungen sind?

Mit diesem Roman verbindet sich tatsächlich eine pädagogische Absicht. Ich habe nämlich gesehen, dass alle wichtigen Bücher, die sich kritisch mit den Protokolle“ beschäftigen, die Leute am Ende nicht überzeugen. Ein Roman dagegen, der zeigt, wie ein Mensch zu einem Fälscher wird, überzeugt vielleicht eher. Eigentlich ist das gegen meine Prinzipien, ich habe zuvor nie ein Buch mit pädagogischer Absicht geschrieben.

Lesen Sie auf der Seite 4 warum es in Italien Kritik an dem neuen Roman gibt.

Sie zitieren die Protokolle und lassen Antisemiten zu Wort kommen. Damit berühren Sie ein Tabu, Sie könnten nämlich in antisemitischem Sinne missverstanden werden.

Tabus selbst sind ein Problem: Man spricht nicht mehr darüber, weil es ein Tabu ist! Nehmen wir das Beispiel der Homosexuellen. Heutzutage würde sich keiner mehr über einen Homosexuellen lustig machen. Das ist nicht politically correct. Aber in den mentalen Vorbehalten finden wir solche Tabus weiterhin. Sie sagen es nicht mehr in der Öffentlichkeit, aber im Privaten machen sie dann schlechte Witze über Homosexuelle. So ist es auch mit dem Antisemitismus. Man blendet diese Positionen aus, aber bei vielen spuken sie im Kopf herum.

Gerade in diesem Punkt gab es in Italien Kritik an Ihrem Roman.

Das betrifft gerade mal drei von 50 Artikeln. Sie erschienen in der Zeitschrift „Pagine ebraiche“ (Jüdische Blätter) und mahnten respektvoll: Gut, wir haben verstanden, was du erzählen willst, aber manch naiver Leser könnte dadurch, dass du all diese Argumente in die Öffentlichkeit trägst, verführt werden. Meine Antwort lautete: Man darf sich davon, dass es irrsinnige Leser gibt, nicht erpressen lassen. Das ist so, als ob ein katholischer Bischof sagen würde, 16-Jährige sollten den fünften Gesang aus Dantes „Inferno“ nicht lesen, denn er könnte ihnen die ehebrecherischen Fantasien von Paolo und Francesca von Rimini schmackhaft machen. Oder Dostojewskis „Schuld und Sühne“ könnte den Leser auf den Gedanken bringen, alte Frauen zu ermorden.

„Der Friedhof in Prag“ ist in Italien wieder ein großer Erfolg. Sind solche Erfolge für Sie inzwischen selbstverständlich?

Sie überraschen mich immer noch ein wenig. Der Erfolg von „Der Name der Rose“ überschattet natürlich alles. Das ist wie mit García Márquez und „Hundert Jahre Einsamkeit“. Er hätte danach den „Faust“ oder „Die göttliche Komödie“ schreiben können. Die Leute denken immer an den ersten Roman. Ich bin überzeugt, dass „Im Namen der Rose“ niemanden interessiert hätte, wäre das Buch zehn Jahre früher oder später herausgekommen. Bücher haben Glück, wenn sie im richtigen Moment erscheinen. Fragen sie mich nicht, welcher das ist. Wenn es einer wüsste, wäre er der beste Verleger der Welt.

Zum Schluss etwas Persönliches. Seit kurzem tragen Sie nur noch einen Schnurrbart. Warum?

Erstens gefällt es mir, mich morgens zu rasieren und anschließend das Aftershave aufzutragen, ein Gefühl, das ich seit mehr als vierzig Jahren nicht mehr hatte. Zweitens hatte ich einen vollständig weißen Bart, während Schnurrbart und Haare schwarz sind. Der schwarze Schnurrbart uferte aus und auf den Fotografien schien ich Dschingis Khan zu sein. Das störte mich. Und ich konnte den Bart nicht färben, denn es ist wissenschaftlich bewiesen, dass man zwar die Haare, aber nicht den Bart färben kann

Das Gespräch führte Reinhold Jaretzky.

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