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Kultur: Umwerfend

Die besten Nachwuchsmusiker der EU bescheren Young Euro Classic ein denkwürdiges Finale.

Zunächst scheint es ein entspannter Abend zu werden, ein festlicher Abschluss der 14. „Young Euro Classic“-Ausgabe. Wie fast immer in den vergangenen zwei Festivalwochen ist der Konzerthaussaal bis auf den allerletzten Platz gefüllt – und das Publikum wild entschlossen, sich von den jungen Leuten auf der Bühne begeistern zu lassen, in diesem Fall von der Crème der europäischen Nachwuchsmusiker. Egon Bahr, der prominente Pate des European Union Youth Orchestra, spricht politisch gewichtig von der Macht der Musik und ganz privat von seiner Liebe zur Klassik, die als Chorknabe begann und sich nach dem Krieg dann doch nicht in professionelle Bahnen lenken ließ, weil sein Unterarm beim Spielen verkrampfte. Zum Glück für die SPD, deren Vordenker er stattdessen wurde.

Eine schöne Koinzidenz: 1922, als Egon Bahr das Licht der Welt erblickte, vollendete Maurice Ravel seine exquisite Orchesterfassung von Modest Mussorgskis Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“, die in der zweiten Konzerthälfte erklingen wird. Ihr Berlin-Gastspiel aber starten die EU-Musiker mit einer Eigenkomposition Ravels, dem unverwüstlichen „Bolero“. Ganz kurz erscheint dazu Krzysztof Urbanski, der 31-jährige polnische Dirigent, nimmt lächelnd den Begrüßungsapplaus entgegen – und beobachtet dann entspannt aus der erste Parkettreihe, wie seine Schützlinge ganz alleine – und sehr sensibel – in den Wunschkonzerthit mit 18 Variationen einsteigen.

Über dem ohrwurmigen Rhythmus erhebt die Flöte ihre Stimme, dann singt die Klarinette die Melodie nach, gibt sie weiter ans Fagott und so fort. Ein schönes Sinnbild für die EU, denkt der Zuhörer, während sich im Orchester das Klangspektrum immer stärker spreizt. Denn so soll sie im Idealfall funktionieren, die Staatengemeinschaft: als freiwilliges Miteinander autonomer Persönlichkeiten auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. Diese Partner sind bereit, aufeinander zu hören, sich ins Kollektiv einzuordnen und einander dennoch Raum zur Entfaltung der eigenen Stimme zu geben...

Doch just in dem Moment, als man sich so richtig schön eingelullt fühlt von diesem völkerverbindenden Sonntagssommernachtstraum, kippt unvermittelt der Trommler vom Stuhl. Lässt die Stöcke fallen, sinkt wortlos zur Seite weg. Sofort breiten die Umsitzenden einen Schutzschirm über ihm aus, wie kurze Zeit später auch über der jungen Frau aus der Cellogruppe, der plötzlich ebenfalls die Sinne schwinden.

Zum Glück sind’s bei ihm wie bei ihr nur kurzzeitige Schwächeanfälle. Nach der Pause können beide – ist er Grieche? kommt sie aus Spanien? – wieder im europäischen Konzert mitspielen. Und doch haben die Wackelkandidaten dem eigentlichen Solisten des Abends die Show gestohlen, Alexander Romanowsky, der sich mit stupender Fingerfertigkeit durch Sergej Prokofjews 2. Klavierkonzert pflügt und als Zugabe gleich noch die hochdramatische Dis-Moll-Etüde aus Scriabins Opus 8 nachschiebt.

Schon bei Prokofjews sehr auf Schau- und Soundeffekte getrimmtem, edelmetallischem Expressionismus ist Krzysztof Urbanskis exorbitantes Gespür für Klangsinnlichkeit aufgefallen. Die „Bilder einer Ausstellung“ macht der junge Pole mit seiner tollen Musikertruppe dann zu einer veritablen Folge faszinierender Tonmalereien. So exquisit, so raffiniert sind die Tiefeneffekte und Fernwirkungen, so genussvoll ausgekostet, so edel eingefasst unzählige Details, dass Mussorgskis Komposition geradezu hinter Ravels Orchestrationskunst verschwindet.

Nach der durchrasten Ouvertüre zu Glinkas „Ruslan und Ludmila“ dreht sich Urbanski grinsend zum Saal um: Man habe da noch eine unerledigte Arbeit abzuschließen. Und dann stürzen sich die Musiker wieder in den „Bolero“-Rhythmus, am Ende sogar stehend, wippend, tanzend. Riesenjubel. Frederik Hanssen

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