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Foto: Axel Schmidt/dapd

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Kultur: Unbeugsam

Der Chinese Liao Yiwu erhält den Friedenspreis.

Von Gregor Dotzauer

Er hatte das Singen schon verlernt. Nein, man hatte es ihm mit aller Gewalt ausgetrieben. Vielleicht ist es deshalb ein doppelt erhebender Moment, wenn Liao Yiwu heute bei seinen Lesungen die Lieder vorträgt, die er sich nach vier Jahren Haft, Folter und Demütigung in chinesischen Gefängnissen und Lagern als Straßenmusiker zurückeroberte. Nur die Poesie hat er aufgegeben. Nicht, weil sie ihn mit dem Gedicht „Massaker“ über die Niederschlagung des Aufstands am Tiananmen-Platz 1989 an die Orte brachte, die er bis heute nicht loswird, sondern weil sie ihm entwertet vorkommt. Die Prosa ist es, der er seine Erinnerungen und seine Angst anvertraut, mit einer metaphernstark expressionistischen Geste, die nichts scheut außer der Fiktion.

„Für ein Lied und hundert Lieder“ heißt Yiwus aufwühlender, letztes Jahr bei S. Fischer erschienener „Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen“, der sowohl seinen Ruf als Chronist eines Schattenreichs festigte, das im Glanz des wirtschaftlichen Aufbruchs entstanden ist, als auch seinen Rang neben den großen Gulag- und Holocaust-Autoren etablierte.

Mit Liao Yiwu, 1958 in der südwestchinesischen Provinz Sichuan geboren, zeichnet der mit 25 000 Euro dotierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels einen Dissidenten aus, in dessen Lebensgeschichte sich die ganze gegenwärtige Ambivalenz zwischen China und Europa spiegelt: Seit Juli 2011 lebt er, nach Jahren der Ausreiseverbote und einem ersten Deutschlandbesuch beim Internationalen Literaturfestival Berlin 2010, als DAAD-Stipendiat im Charlottenburger Exil – nicht zuletzt auf Vermittlung von Angela Merkel, der er einen Bittbrief geschrieben hatte. Im Gegensatz zu Liu Xiabo, dem nach wie vor inhaftierten Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, der Yiwu seinen „alten glatzköpfigen Freund“ nennt, ist ihm ein Schritt in eine Freiheit gelungen, die es doch, wie er schmerzhaft erfahren musste, auch als innere täglich neu zu gewinnen gilt.

Als Schriftsteller fiel er zuerst 2007 in der Zeitschrift „Lettre International“ auf. Dort hatte er erste Proben seiner Interviews mit Obdachlosen, Mördern und Prostituierten veröffentlicht, die zwei Jahre später unter dem Titel „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ zum viel gewürdigten Ereignis des chinesischen Gastlandauftritts bei der Frankfurter Buchmesse wurden. Nur ihr Verfasser durfte daran nicht teilnehmen. Im Herbst, wenn „Die Kugel und das Opium“ erscheint, sein Bericht über „Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens", wird das nun anders sein.

Das Exil, schrieb seine Freundin Herta Müller, sei für Liao Yiwu „ein bitteres Glück, weit größer, als man es fassen kann. So ein bitteres Glück ist an und für sich mehr wert als glattes Glück – es hat immer zu viel gekostet, aber einem noch mehr erspart. Vom bitteren Glück wird man nicht getragen, man hat es zu schleppen.“ Vielleicht verliert es mit dieser Auszeichnung, die ihm am 14. Oktober in der Frankfurter Paulskirche verliehen wird, wenigstens etwas von seinem Gewicht. Dazu kann auch Deutschland beitragen, indem es seine Rolle zwischen Menschenrechtsemphase und Wirtschaftskooperation genauer bedenkt. Gregor Dotzauer

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