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Kultur: Und die Welt holt Atem

Letzte Hoffnungen (11): die Nacht.Gegenwelt.

Letzte Hoffnungen (11): die Nacht.Gegenwelt.Das Land der Phantasie, das graue Reich VON TOM PEUCKERT

Nachts im Radio läuft Telefon-Talk.Der Moderator fragt, was seine Hörer machen, wenn sie nicht schlafen können.Es ist angenehm, den Geständnissen der Anrufer zu lauschen.Schon ihre Stimmen klingen ungewohnt: ergriffen, sanft, schwärmend - Tonfälle, wie sie in modernen Gefühlshaushalten nicht häufig vorkommen. Einige schreiben in den Nächten Gedichte.Andere verfassen lange Briefe an ihre Freunde, voll von Bekenntnissen, die ihnen am Tag nicht über die Lippen kämen.Eine Frau näht sich nächtelang Kleider - "lauter verrücktes Zeug, das man kaum tragen kann", sagt sie mit einem glücklichen Lachen.Ein Mann stellt nach Mitternacht oft die Möbel in seiner Wohnung um. Sie klagen nicht über ihre Schlaflosigkeit, im Gegenteil: es ist, als verschafften ihnen gerade die durchwachten Nächte das Gefühl, ein unverwechselbares Leben zu haben.Sie wohnen in der Stadt, aber sie erzählen von einer Gegenwelt zu Lärm, Geschwindigkeit und Rationalität des Großstadt-Tages.Manchmal klingt es wie Trotz.Als wollten sie sagen: Auch wir leben in einer Welt voller Phantasien. Noch immer hat die Nacht seltsame Gewalt über die Seelen der Zeitgenossen.Ihre verwandelnde Energie ist ungebrochen.Nicht auszulöschen durch die künstliche Erhellung der Städte, die eisernen Rhythmen der Arbeitswelt, die Vollversorgung mit Televisionen.Noch immer weckt sie merkwürdige Sehnsüchte in uns, nach Kreativität, Überschreitung von Grenzen, Ursprünglichkeit.Novalis, der die Nacht unermüdlich besungen hat, schreibt im "Heinrich von Ofterdingen": "Der Mond stand in mildem Glanze über den Hügeln und ließ wunderliche Träume in allen Kreaturen aufsteigen.Selbst wie ein Traum der Sonne, lag er über der in sich gekehrten Traumwelt und führte die in unzählige Grenzen geteilte Natur in jene fabelhafte Urzeit zurück, wo jeder Keim noch für sich schlummerte und einsam und unberührt sich vergeblich sehnte, die dunkle Fülle seines Daseins zu entfalten." Ein "Pärchenclub" am östlichen Rand der Stadt.Eine zweigeschossige Villa, überall ist es finster, nur hier glimmt noch farbiges Licht hinter den Fenstern.Ein Mann in bunten Shorts und weißem Netzunterhemd schließt Geldscheine in seine Kassette und rollt einen Kleiderständer aus der Ecke hervor: "Wir ziehen uns vorher aus.Es schafft die richtige Stimmung." Hinter der Tür mit Milchglasscheiben zuckt Bilderlicht."Das ist die Pforte zum Glück", sagt er.Drinnen hocken sie auf hohen Drehstühlen an einem Bartresen, im Halbkreis stehen Sofas um einen Videomonitor.Der Monitor zeigt eine nackte weiße Frau, die rücklings auf einem Schreibtisch liegt, vor ihr kniet ein dunkelhäutiger Mann.Neben dem Paar steht ein kleines Sternenbanner auf dem Tisch, sowie ein Ventilator, dessen Rad in gefährlicher Nähe an den Körpern vorübersaust. Ein Besucher in leuchtendweißem Slip, gleich drüber beginnt die Wölbung seines mächtigen Bauches, und eine Frau, die eine kleine Handtasche über ihrer nackten Schulter trägt, erheben sich aus einem der Sofas."Wir gehen auf Matte", ruft der Mann gutgelaunt in die Runde. Nebenan ist der Boden mit rosafarbenen Matratzen ausgelegt.Kissen liegen verstreut, ein kleinerer Monitor flimmert.Auf einer der Matratzen bilden Männer und Frauen eine verschlungene Formation.Bedächtig und konzentriert wirken sie, so als verrichteten sie hier einen sachlichen Dienst an ihren Körpern.Man sieht keine heftigen Zuckungen, keine glühenden Umarmungen, nur bedächtige Arbeit an empfindsamen Körperpunkten.Reibung und Gegenreibung.Die Frauen und Männer scheinen ganz Körper, ohne andere Erwartung als die, auf gleichmäßig ansteigenden Kurven ans Ziel ihrer Sehnsüchte zu gelangen.Vielleicht ist diese Nacht ein wirkliches Abenteuer für sie, die lustvolle Überschreitung letzter Tabus, die am Tag, in der verwalteten Welt, noch Gültigkeit haben mögen.Jene, die hier gesellig miteinander verkehren, feiern die Travestie des allmächtigen Tauschprinzips ihrer Kultur.Das Fest einer instinktiven Freizügigkeit, von dem man wohlige Schauder mit in den nächsten Tag nehmen kann.Ein Innehalten und beglücktes Augenschließen, in der Gewißheit, daß man ein wildes, abenteuerliches Leben zu führen versteht. Drei Uhr morgens.In der winzigen Kneipe am Prenzlauer Berg ist die Luft heiß von den dampfenden Körpern und der Glut unzähliger Zigaretten.Eine schummrige Arche, die durch das Großstadtdunkel segelt, ein längst unentbehrlich gewordenes Nachtasyl für ergraute, heruntergekommene Bohemiens und ebenfalls nicht mehr junge Frauen, geplagt von allen Furien der Melancholie.Der Wein ist billig, um diese Zeit wird scharf getrunken.Noch immer sitzen die Schachspieler über ihre Bretter gebeugt.Eine Frau tanzt nach einer Siebziger-Jahre-Melodie, die aus dem Radio dudelt.Versunken dreht sie sich im Kreis, lasziv wie eine Flamenca bewegt sie ihr Becken, stößt es vor im Rhythmus des Liedes.Ihr Gesicht unter dem blonden, kurzgeschnittenen Haar trägt wie Wundmale die Spuren eines mit Enttäuschungen hingebrachten Lebens.Einer der alten Männer schreit: "Ich kündige den Sturm an!".Ohne aufzuschauen hält sein Nachbar ihm den Mund zu, das Geschrei des Alten verebbt zu einem starrsinnigen Brabbeln. Mein Heimweg führt eine breite Hauptstraße hinunter, auf der es nun für kurze Zeit still geworden ist.Über den Geschäften hängen farbige Leuchtschriften, der Weg zerfällt in dunkle Abschnitte, auf die strahlend bunte Lichtgassen folgen.Über den Schaufenstern die Namen der Ladeninhaber, auf den abgestellten Lieferwagen die Firmennamen, auf Plakaten und Schildern all die Namen, die es für Dienstleistungen gibt.Gut möglich, daß einer unterm Ansturm der Namen sein Leben lang nicht zur Besinnung kommt.Die Schrift übt Zwang aus: Sie will gelesen werden.Selbst, wenn ihre Botschaften uns nicht erreichen, verändert der Akt des Lesens alles.Wer liest, verhält sich rational.Die Schrift gehört zur Tagwelt, sie verhindert das einfache Hineinstarren in die Dinge, vertreibt aus den Paradiesen des Träumens.Jetzt, wo die Geschäfte still und verlassen daliegen und keine der angebotenen Dienstleistungen noch zu haben wäre, verhalten sich die Namen friedlich.Sie fügen sich zusammen zu einer langen Kette von Bildern, jeder Name besitzt Würde und Gelassenheit.Sie wollen nicht gelesen werden. Für Momente treibt frischer Nachtwind den Geruch von Teer und verbrannntem Benzin auseinander.In der Stille rascheln Bäume vor den dunklen Fensterhöhlen.Welch gewaltiges Crescendo der Träume dahinter gespielt wird! Bilderfluten strömen durch die Köpfe der Schläfer, sie erleben Dinge, die es nicht gibt.Eigentlich erstaunlich, daß in diesen Stunden sich nirgendwo Spuren des kollektiven Träumens materialisieren.Müßten die Konturen der Stadt nicht ein bißchen durchscheinend werden, jetzt, wo alle Augen etwas anderes sehen? Die Nacht wird bleiben.Als Gegengewicht zu unseren hochkonstruierten, hochorganisierten, mühevollen Tagwelten; als Ort stiller Subversionen und leichtfüßiger Verwandlungen.Nachts weicht der scharfe Farbenglanz der Welt einem versöhnenden Grau.In der Nacht holt die Welt Atem.Ohne Atempause müßte sie ersticken.

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