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Kultur: Und fertig ist der Neonazi

Der Rest ist Fluch und Rache: Klischees und verschenkte Geschichten auf der Biennale von Venedig

Von Jan Schulz-Ojala

Filmkritiker sind Finsterlinge. Am hellichten Tag, wenn andere Leute ordentlichen Tätigkeiten nachgehen, streben sie, am liebsten mit dem Dolch im Gewande, dunklen Kinosälen entgegen und verrichten dort das grausige Geschäft des Filmabstechens. Ihre finstersten Gesellen aber schicken die Redaktionen dieser Welt alljährlich zum Festival am Lido ?– sind sie doch resistent gegen jedwede Versuchung, etwa an traumhaften Spätsommer-Wochenenden in der Adria zu baden, so wie das Tausende von Italienern schamlos vor ihren Augen tun. Viel lieber gucken sie täglich stoisch mindestens vier Filme, gerne jene der zweieinhalbstündigen,düsteren, ereignisarmen Art – und bereuen ihre Entscheidung keine Sekunde.

Unter der Planierraupe

Wie gut, dass das Festival dies Jahr ihrem Temperament besonders entgegenkommt. „Road to Perdition“, Straße der Verdammnis, heißt einer der Filme des Jahrgangs programmatisch – und tatsächlich wimmelt es ihnen nur so von vereinsamten, gepeinigten, eingeknasteten Verdammten dieser Erde. Nicht verkehrt, auch wenn diese Werke allesamt nicht durchweg gelungen sind: So macht das Filmabschlachten doppelt Spaß.

Bös ausgepfiffen etwa wurde am späten Freitag abend eben jener „Road to Perdition“ – schließlich hatte die am Lido versammelte Weltfilmkritik für das neue Werk von Sam Mendes so um die 1000 köstlichen Dinner-Desserts unter freiem Himmel sausen lassen. Nun, vielleicht waren auch die Erwartungen nach „American Beauty“, dem ersten Kino-Geniestreich des heute 36-Jährigen, etwas überspannt. Hätte man nicht nur staunen wollen über die fraglos schön finsteren Bilder, die „American Beauty“-Kameramann Conrad L. Hall gefunden hatte, sondern auch nachdenken über eine kluge, vielleicht sogar wieder einmal irritierende neue Geschichte? Und hätte man nicht Mendes, den eigentlichen Theatermann, einmal mehr grimmig feiern mögen als den Regisseur, der mit den Mitteln Hollywoods dessen Wesen trotzt ? Dieser ideologischen Planierraupe, die jedwede Originalität dem Massengeschmack opfert?

Tatsächlich ist über „Road to Perdition“ nicht wirklich viel zu sagen. Die 80-Millionen-Dollar-Produktion aus der Spielbergschen Dream-Factory verdient das in der Branche fast tödliche prädikat „solide“. Also: Nach einem Comic-Roman von Max Allan Collins hat Mendes einen unterhaltsamen Gangsterfilm im Depressions- und Prohibitionsmilieu der Dreißiger Jahre gestrickt. Da gibt es den örtlichen „Paten“ John Rooney (Paul Newman) und seine zwei Söhne: den Nichtsnutz Connor (Daniel Craig) und den angenommenen Sohn Michael (Tom Hanks), der selber zwei kleine Söhne hat. Als der ältere der Beiden (gespielt von 13-jährigen Tyler Hoechlin) eine schiefgegangene Geldeintreibe-Operation seines Vaters und Onkels beobachtet und damit auffliegt, will Connor die Sache vertuschen und tötet zunächst Michaels Frau und – versehentlich – dessen kleineren Sohn. Bleiben Michael und der überlebende Zeuge: Der Rest ist Flucht und Rache.

Ein toller Stoff eigentlich, aus der Perspektive des mit dem Vater durch Amerika fliehenden großen Kindes erzählt – aber was ein aufregendesPsychodrama zwischen rivalisierenden erwachsenen Brüdern oder einem Vater und seinem an ihm und gegen ihn reifenden Sohn werden können, verschenkt der Film weitgehend an die Schauwerte des Genres. Spätestens als Sam Mendes den Zuschauern, anders als die Buchvorlage, zwecks seelischen Superhappyends noch eine extrabreite Läuterung fürs Leben mitgibt, freut sich der Kritiker wieder einmal, statt des Badetuchs seinen Kugelschreiber an den Lido mitgenommen zu haben.

Bei Winfried Bonengels „Führer Ex“, dem ersten deutschen Wettbewerbsbeitrag, vor Döris Dörries „Nackt“, tut’s dagegen eher weh. Die Geschichte des in der DDR aufgewachsenen Neonazi-Aussteigers Ingo Hasselbach, die der in diesem Milieu (“Beruf Neonazi“) äußerst kenntnisreiche Dokumentarist Bonengel für seinen ersten Spielfilm wählte, passt zwar punktgenau zum ideologischen Nährboden der nach rechts driftenden Gesellschaften Europas, besonders Italiens – aber als Spielfilm ist „Führer Ex“, so hart sei’s geschrieben, das Werk eines blutigen Anfängers. Papierene Dialoge, viel Raum fürs Klischee und eine Schlussphase, die nicht mehr weiß, wohin vor lauter Stoffmasse mit all den Gefühls- und Handlungsfäden: Da fällt es leicht, mit dem Film auch sein Thema nur noch abzuhaken.

Schade eigentlich – ein bisschen wie „Sonnenallee“ oder, spröder undzeitgeschichtlich genauer, „Helden wie wir“, fängt „Führer Ex“ an: mit der Rebellion von ein paar Halbwüchsigen in der späten DDR, wo es genügte, eine Flagge im leeren Stadion anzuzünden, um für Monate hinter Gitter zu kommen. Der Film beobachtet den halbstarken Tommy und seinen schüchterneren Freund Heiko, die Hasselbach-Figur, auf ihrer Reise: nicht nach Australien, wie sie es sich erträumen, sondern sehr lange durch die Knäste der DDR. Hierarchische Demütigung durch Aufseher, sexuelle Demütigung durch Mitgefangene, Prügel, Isolation – fertig ist der Neonazi. Und kommt ein totalitäres System wie die DDR als gesellschaftliche Ursprungsfolie hinzu, gibt¹s die Glatzen gleich in Serie. Sehr viel mehr weiß der Film über seine Figuren nicht zu erzählen. Woraus nur nährt Produzent Laurens Straub da seine Hoffnung, mit dem Film könne man dem „westlichen Stereotyp, alle Ossis seien Nazis“, endlich den Boden entziehen?

Auf der Straße der Verdammnis

Immerhin: Auch wenn sie ein bisschen wie die kleinen Geschwister von Alexander Scheer, Moritz Bleibtreu und Franka Potente aussehen – mit den jungen (Ost-)Berlinern Christian Blümel, Aaron Hildebrand und Jule Flierl hat Bonengel drei neue Talente fürs deutsche Kino entdeckt. Schauspielerisch ebenso bemerkenswert, nur dramaturgisch packender hat der Schotte Peter Mullan den Prozeß der geistigen und körperlichen Willensbrechung bis hin zumIdentitätsverlust in „The Magdalena Sisters“ beobachtet. Am Beispiel von vier jungen Insassinnen klagt er das System der irischen, von Nonnen betriebenen Magdalenen-Konvente an, die bis 1996 Tausende von Frauen lebenslang praktisch gefangen hielten.

Ein Mädchen wird nach Jahren vom erwachsen gewordenen Bruder rausgeholt, zwei können nach unendlichen Martyrien fliehen (erlöster Szenenbeifall im Saal), eine wird verrückt: Eileen Walsh, Nota-Jane Noone, Anne-Marie Duff und Dorothy Duffy geben dem Leiden auf dieser Straße der Verdammnis, für die die katholische Kirche ihre eisernen Verkehrsregeln aufstellt, anrührend Kontur. Kein Wunder, dass der kompromisslose Film nun in manchen italienischen Medien als besonders mutig bejubelt wird. Mit mitteleuropäischeren Augen betrachtet, ist er allerdings auch nicht mehr als die 119 Minuten währende Illustration einer einzigen – nebenbei: nicht mehr ganz neuen – These.

Also doch an den Strand, Kollegen? Pech, das Wetter wird gerade schlechter.

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