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Flora et labora. Martin Walser schaut sich in seinem Garten im Überlinger Ortsteil Nussdorf die Schmucklilien an. Foto: dapd

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Walser-Roman "Muttersohn": Und Jesus ging über den Bodensee Glaube, Liebe, Schlendereien: Martin Walsers bizarrer Roman „Muttersohn“

Dass Martin Walser sich nicht mehr groß um die Gepflogenheiten der Verlagsbranche schert, bewies er 2010 mit der Veröffentlichung seiner Novelle „Mein Jenseits“. Diese erschien nicht bei seinem angestammten Verlag Rowohlt, sondern in der kleinen Berlin University Press.

Dass Martin Walser sich nicht mehr groß um die Gepflogenheiten der Verlagsbranche schert, bewies er 2010 mit der Veröffentlichung seiner Novelle „Mein Jenseits“. Diese erschien nicht bei seinem angestammten Verlag Rowohlt, sondern in der kleinen Berlin University Press. Das Buch funktionierte zwar als eigenständiger Text, war aber ein Auszug aus Walsers Roman „Muttersohn“, der in dieser Woche erscheint.

Auch mit der Gattungsbezeichnung Novelle für „Mein Jenseits“ hatte es seine eigene Bewandtnis. „Jetzt die Handlung“, steht da ziemlich am Schluss, worauf erst die unerhörte Begebenheit folgt, ein Reliquienklau. Doch eine Novelle kann ja auch vom Ende aus schön sein und von vorn etwas ganz anderes. Wie ernst Walser genommen werden will, demonstriert er, wenn er in „Mein Jenseits“ dem Ich-Erzähler Professor Dr. Dr. August Feinlein, seines Zeichens Chefarzt des Psychiatrischen Landes-Krankenhauses Scherblingen, Sätze wie diesen in den Mund legt: „Je ernster ich den Prozess gegen mich betreibe, desto unernster meine ich es.“ Und: „Je ernster einer den Prozess gegen sich betreibt, desto mehr wird daraus Ironie“.

Nun stellt sich nach der Lektüre von „Muttersohn“ noch zusätzlich die Frage, wie ernst Walser eigentlich seine Leser nimmt. Denn der 84-Jährige übertreibt es in „Muttersohn“ mit der Skurrilität und den Bizarrerien, mit der Komik und dem Entfalten seiner höchst eigenen Themen: dem unbedingten Glauben jenseits aller Vernunft, der unbedingten, bedingungs- und grundlosen Liebe, der bedingungslosen Zustimmung zum Leben im Allgemeinen und seinen Büchern, seinen Themen im Speziellen.

Das beginnt mit den Namen der Figuren, die so absurd und sprechend sind wie wohl noch nie bei Walser: Percy Anton Schlugen. Gretel Strauch. Augustin Feinlein. Ewald Kainz. Elsa Frommknecht. Modest Müller-Sossima. Chrysostomus Studer, um nur einige der Protagonisten zu nennen. Das setzt sich mit schrägen Einfällen fort, die Walser über seinen Roman gestreut hat, als gäbe es kein Morgen.

Der „Muttersohn“, die Hauptfigur des Romans, ist Percy Anton Schlugen, der Messias. Percy hat keinen Erzeuger, aber viele Ersatzväter. Er ist Pfleger von Beruf und hat die Schlafsack-Therapie für Psychiatrie-Patienten erfunden. Vor allem arbeitet er als Redner, als Prediger, dem es um die „Heiligkeit des Augenblicks“ geht. Dieser Percy also ist einmal dem Tod ganz nahe. Nach einem Unfall wird er nur gerettet, weil er aus dem kaputten Auto gerade noch einen Stock raushalten kann, auf dem ein Hut hängt. Ausgerechnet ein Pfarrer findet ihn.

Ewald Kainz wiederum, der Liebhaber von Percys Mutter, den Percy zu Beginn des Romans vor dem Selbstmord retten soll, schließt sich irgendwann einer Motorradgang an, den „Buben“, deren Mitglieder „Katze“, „Castro“ oder „Lenin“ heißen. Ewald bricht einmal ihren Treueschwur, als er heimlich eine Ballonverfolgungsfahrt mitmacht, von ihm auch als „Sündenfall“ bezeichnet, weil er kurz darauf auch noch seiner Frau untreu wird.

Oder das Schicksal von Professor Dr. Dr. August Feinlein. Am Ende ist er nicht mehr Professor und Doktor des PLK Scherblingen, sondern „Stillsteher“. Mit einem Silberanstrich versehen, steht er auf einer Rheinbrücke, einen silber bemalten Geigenkasten neben sich. (Und irgendwann stürzen ihn ein paar Jugendliche von seinem Ausguck, er fällt auf den Hinterkopf und stirbt.)

Wie mit den Namen und den Einfällen verhält es sich mit der Form dieses Romans, die eher wild ist. Mit Gedichten, Gesängen, Talkshow-Sequenzen und Aphorismen folgt diese einem Credo von Percy: „Ziellos erzählen, das ist das, was du tun musst.“ Es gibt drei mehr oder weniger in sich geschlossene Kapitel („Mein Jenseits“ „Dem Leben zuliebe“ und „Dieses Leben“) sowie das vierte Kapitel „Fortleben“, auf das noch ein kurzer Epilog folgt. „Fortleben“ soll das Vorhergehende zusammenhalten, die Motive und Stränge des Romans bündeln – was mehr schlecht als recht gelingt.

Auch hier muss man sich auf viel Seltsames einlassen. Auf eine „Akademie der Unvollendeten“ etwa. Oder die „Scherblinger Anthologie“, eine Sammlung ungedruckter Werke, die hier endgültig einem Schredder namens „Oblomow“ zum Opfer fällt. Hier wird gestorben, was das Zeug hält – von wegen „Fortleben“. Und hier streut Walser seine typischen Walser-Sätze in Briefe und Dialoge: „Glauben, ein Lied ohne Worte“ oder „Wer sich nicht sehnt, lebt nicht“.

Nicht erst an dieser Stelle wird man gewahr, dass Walser bei dem ewigen Versuch, „etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist“ – so sein literarisches Programm –, seine Figuren nurmehr für Sprechblasen benutzt. Sie erwachen nicht wirklich zum Leben, sondern agieren launig, marionettenhaft und müssen dann noch Walsers Arno-Schmidt-Begeisterung oder Lesefrüchte aus Schriften der Mystiker Jakob Böhme oder Emanuel Swedenborg in ihr Denken und Fühlen integrieren. Walser schert sich nicht um eine stringente Handlung, geschweige denn um Realismus. Ihm geht es primär um Glaubens- und Liebesbekenntnisse, wobei auch letztere religiös konnotiert sein können und Bekenntnisse zur Musik einschließen. Zudem umspielen sie das Thema Treue und Verrat.

Also, zum Glauben: „Der Glaubensübermut ist die hellste Lebensstimmung, die ich kenne.“ „Man muss seinen Verstand unter den Gehorsam des Glaubens beugen.“ Oder, zur Liebe:  „Lieben braucht keinen Grund.“ „Ohne Elsa war alles ein Unglück. Ohne Silvi auch.“ Oder: „Verzichten unmöglich. Nichtverzichten auch. Also nichts, prima.“ Man könnte viele solcher Walsersätze zitieren. Manche davon sind schön, manche Blödsinn – oder schlicht unverständlich. Manche stellen das einmal Gesagte wieder in Frage oder heben sich in einem Nebensatz gleich wieder auf. „Wortschlendereien“ halt. Die in eher biografischen, sentenzenhaften Walser-Büchern wie „Meßmers Reisen“ oder „Meßmers Gedanken“ besser aufgehoben waren.

Es hat schon was, dass Walser mit „Muttersohn“ so losgelassen agiert, dass er frei von allen Skrupeln vor sich hin und für sich selbst schreibt. Aber ist das mit 84 Jahren und unzähligen Büchern nicht eine Selbstverständlichkeit? Als Leser aber fühlt man sich bei Pappkameraden wie Percy „Jesus“ Anton Schlugen eher auf den Arm genommen, bekommt der Bekenntnisdrang, die Diskussion der Lebens-, Glaubens- und Liebesfragen in ihrer grotesk anmutenden Verpackung etwas Schales. Und Unernstes sowieso. Dass Walser aber nur wenig zum Spaßen aufgelegt ist, zeigt sich gegen Ende, als Percy, bevor er einem Hinterhalt zum Opfer fällt, eine letzte Rede hält und die „Heruntermacher“ geißelt, denen die Sonne immer untergeht: „Mir bleibt die Luft weg, wenn ich einen Heruntermacher erlebe. Ich brauch’ dann dringend etwas Schönes.“

Immer nur Schönheit, nur Zustimmung – wie langweilig wäre das denn!

Martin Walser: Muttersohn. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2011. 506 S., 24, 95€.

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