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Kultur: Unerwünscht?

Die Mahnmal-Stiftung entdeckt vergessene Opfergruppen

Wo gehobelt wird, fallen Späne. Wer den Krieg beginnt, nimmt Kollateralschäden in Kauf. Der deutsche Krieg gegen die UdSSR ging darüber hinaus. Von 5,7 Millionen Kriegsgefangenen starben drei Millionen. Das gezielte Aushungern von 30 bis 40 Millionen Menschen, deren Lebensmittel die Wehrmacht und das Volk daheim ernähren sollten, war Teil der Strategie. Kalkulierter Hungertod: Die Zahl dieser vergessenen, nur zu schätzenden Genozid-Opfer dürfte kaum unter den sechs Millionen des Holocaust liegen. Im Gegensatz zu den Juden erwartete die überlebenden „slawischen Untermenschen“ allerdings eine Zukunft, als Sklaven.

Peter Jahn, Leiter des Deutsch-Russischen Museums Karlshorst, spricht nicht salopp von Hobeln und Spänen, sondern kühl von Zahlen, Befehlen, Beispielen. Mit seinem Vortrag „Sowjetische Kriegsgefangene und die zivile Bevölkerung als Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges“ beginnt eine Reihe im Berliner Martin-Gropius-Bau, veranstaltet vom Centrum Judaicum, der Topographie des Terrors und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (diese muss derzeit wieder mal ihren Baustart verschieben, wegen einer zweiten Ausschreibung). Hier widmet sie sich, das war ihr nach der Mahnmal-Debatte um die Exklusivität des jüdischen Martyriums aufgetragen worden, der Erinnerung an alle Opfergruppen.

Ein Ortskommandant fragt an, ob der Bevölkerung Lebensmittelkarten zuzuteilen seien. Sein Chef antwortet: Kümmere dich ausschließlich um deine Truppe und um Beutetransporte ins Reich. 600 weißrussische Dörfer werden vernichtet. 800000 Menschen verhungern plangemäß im belagerten Leningrad. Als 1943 der Befehl ergeht, nun doch möglichst viele Russen zur Zwangsarbeit westwärts zu deportieren, ist die zuvor geförderte Enthemmung des Heeres kaum zu revidieren; die zwanghafte Ermordung von Gefangenen und Zivilisten geht weiter. In Deutschland sind Erinnerungen an diesen Völkermord der Soldaten und Logistiker überlagert worden: vom Kriegsleid des eigenen Volkes. Der sowjetischen Gedenkpolitik wiederum waren Triumphe wichtiger als die Opfer. Zur Auswertung geöffneter NKWD-Archive wird man, laut Jahn, Jahrzehnte brauchen. Und für oral history-Projekte zur Erforschung des Massenmordes könnte es, so der Historiker Wolfgang Benz, fast zu spät sein.

Wichtiger als die Errichtung eines speziellen Denkmals, sagt Peter Jahn, seien Informationen über diese Geschichte, damit sie nicht verdrängt werde. Er schlägt vor, neben dem sowjetischen Ehrenmal an der Straße des 17. Juni ein Haus mit einer 1500-Quadratmeter-Ausstellung zu errichten. „Wäre das denkbar? Oder unerwünscht?“ Die Frage nach dem Volksempfinden, das sich weiteren Erinnerungsprojekten wohl verweigern würde, steht im Raum. Kollektive Speicher sind begrenzt, der Gedenkkuchen ist umkämpft. Und wie sollte der millionenfache Hungertod – eine aktuelle Realität, die von den Bilderparaden der Medien wohlweislich ausgespart wird – museal darzustellen sein?

Als der Mann am Pult plötzlich gluckst, denkt das Publikum, er verschlucke sich. Eben war die Rede von Kindern, die zum Sterben in Heime gesperrt wurden. Jahn entschuldigt sich. Er habe das „mal konkret mitgekriegt“. Tränen im Hals, diese „Panne“ eines Profis ist erwähnenswert. Geschichte ist Gegenwart. Erst wenn die Deutschen sich ihrer ermordeten Slawen erinnern können, ist der Krieg, vielleicht, vorbei. Und Berlin das Tor zum Osten. Thomas Lackmann

Vorträge im Martin-Gropius-Bau: über Zwangsarbeiter (8.10.), Deserteure (22.10.), Sinti und Roma (5.11.), Menschenversuche (19.11.), Euthanasie (3.12.) , jeweils 18 Uhr.

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