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Die Quoten der Vergangenheit. Hochseilartist 1948 an der Zugspitze.

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Unfall bei "Wetten, dass ...?": Risiko und Sicherheit: Die große Illusion

Ein junger Mann ist bei der Unterhaltungssendung "Wetten, dass ...?" schwer verletzt worden. Man stellt reflexhaft die Schuldfrage. Ein Unfall in einer Fernsehshow – und die falsche Forderung nach einem Leben ohne Risiko.

Manchmal erinnert man sich an die Zeit, in der es dreimal so viele Verkehrstote gab wie heute, so lange ist das nicht her, die Zeit, als niemand beim Radfahren einen Helm oder im Auto einen Gurt trug, als fast alle rauchten und als die Kinder auf den Gleisen spielten. Die meisten haben es überstanden, was selbstverständlich nicht grundsätzlich gegen unsere heutigen Sicherheitsbemühungen spricht. Das ist letztlich eben alles eine Frage der Statistik. Noch nie, das weiß man ja, sind die Menschen in Europa so alt geworden wie heute, noch nie waren ihre Lebensrisiken – Krieg, Hunger, Krankheit – so gering.

Die menschlichen Sinne und unser Gedächtnis sind ein schlechter Kompass, wenn es um Risiken geht. Nach jedem Flugzeugabsturz stellen wir uns die Frage, ob dieses Verkehrsmittel wirklich sicher ist, und die Statistik beruhigt uns dann überhaupt nicht. Wir haben, egal, wie sehr wir die Vorschriften verschärfen, die Grenzwerte senken und die Wartungsabstände verkürzen, das Gefühl, von unbeherrschbaren Risiken umgeben zu sein, das ist unser Erbe, das steckt in uns drin. Und es stimmt ja auch: Wir werden das Leben niemals ganz beherrschen, wir werden sterben.

Jetzt ist ein junger Mann bei der Unterhaltungssendung „Wetten, dass ...?“ schwer verletzt worden. Man stellt reflexhaft die Schuldfrage: Hat das ZDF dem Quotendruck nachgegeben, haben sie eine Wette zugelassen, die zu gefährlich war, um die Sensationsgier des Publikums zu befriedigen? Man muss sich daran erinnern, wie die Unterhaltungssendungen vor einigen Jahrzehnten aussahen, als der Stuntman Armin Dahl ungesichert an Häuserfassaden kletterte und als man – der Moderator hieß Dietmar Schönherr – ein Auto samt darin sitzender Familie in einem Swimmingpool versenkte, sie sollten sich irgendwie befreien, das war Unterhaltung. Jede These, die behauptet, dass irgendetwas heute schlimmer als früher sei, zum Beispiel unsere Sensationsgier oder die Skrupellosigkeit der Medien, ist kenntnisfrei. Das Gegenteil stimmt. Unsere Zivilisation hat sich, in der Unterhaltungsbranche, von den Gladiatorenkämpfen in der Arena über öffentliche Hinrichtungen und Hexenverbrennungen, Hochseilartisten ohne Netz und Boxkämpfe, die erst endeten, wenn einer der Kämpfer nicht mehr aufstand, zu Harmlosigkeiten wie „Wetten, das ...?“ oder „Schlag den Raab“ entwickelt.

Völlige Sicherheit gibt es nicht, es kann immer etwas passieren. Auch der Mann, der leere Bierkisten aufeinanderstapelt und dann den Turm hinaufklettert, kann abstürzen. Solange es Skirennen, Skateboard-Weltmeisterschaften und Autorennen gibt, wird es dabei Verletzte und Tote geben. Man kann die Gefahr verkleinern, das wird getan, abschaffen kann man sie nicht. Auch das Bedürfnis des Publikums nach Nervenkitzel kann man nicht abschaffen.

Man sollte es nicht einmal versuchen. Denn man wird sich auch in einer Welt ohne Abenteuer und ohne Risiko nicht wirklich sicher fühlen, im Gegenteil. Jedes Abenteuer und jedes überstandene Risiko beruhigt uns, für eine Weile, Publikum und Akteure wissen dann, dass wir dem Tod, zumindest hin und wieder, eben doch ein Schnippchen schlagen können. Menschen suchen das Abenteuer, weil es sie glücklich macht. Nicht einmal ein so erzvernünftiger Charakter wie Heiner Geißler ist dagegen gefeit, Geißler hat sich vor ein paar Jahren beim Gleitschirmfliegen fast den Rücken gebrochen, um ein Haar wäre er im Rollstuhl gelandet.

Es ist menschlich, nach Schuldigen zu suchen, aber es gibt nicht immer Schuldige. Eine Tendenz der Sendung „Wetten, dass ...?“ zu extrem waghalsigen oder lebensgefährlichen Wetten ist nicht erkennbar, und ihre Quote verdankt diese Show mindestens ebenso sehr ihren berühmten Gästen wie den Wetten. Nach dem Unfall des Studenten und Stuntmans Samuel Koch hat das ZDF sich vorbildlich verhalten, indem es keine Bilder des Verletzten zeigte und die Show abbrach, auch der Moderator Thomas Gottschalk hat die richtigen Worte gefunden. Ob bei der Vorbereitung der Wette Fehler gemacht wurden, wird sich zeigen. Fest steht: Wer so etwas für die Zukunft verbindlich ausschließen möchte, muss nicht nur die Unterhaltungsbranche abschaffen, sondern auch die Freiheit, und das wäre ein zu hoher Preis. Freiheit bedeutet ja, innerhalb gewisser Grenzen über das eigene Leben bestimmen zu können und damit auch über die Risiken, die man für sich selbst eingeht.

Es wird dann gern über die Folgekosten geredet. Wer bezahlt den Krankenhausaufenthalt des Drachenfliegers, die Krebstherapie des Rauchers, das Sanatorium des Boxers? Das Leben besteht aus vielen Entscheidungen, die man in Freiheit für sich selber trifft und die Kosten oder Lasten für andere bedeuten. Das eine Paar hat Kinder, die den Staat zunächst einmal Geld kosten, das andere hat keine und belastet die Rentenkassen der Zukunft. Der eine arbeitet und zahlt Steuern, ein anderer lebt lieber ohne Arbeit, das gibt es ja auch, der eine lebt von Gemüse, der andere isst sich 100 Kilo Übergewicht an – wie soll man das alles ausrechnen und Gerechtigkeit herstellen? Es geht, vielleicht, wenn man eine allumfassende Kontroll- und Umverteilungsbehörde errichtet, aber in einer so perfektionistischen Risikovermeidungs- und Gerechtigkeitsgesellschaft würden die meisten von uns sich auch nicht sonderlich wohlfühlen.

In den Aufregungen des Alltags vergessen wir oft, dass die meisten von uns vom Leben etwas Unmögliches verlangen. Wir wollen frei sein, am liebsten total frei, und uns sicher fühlen. Das geht nicht, die Freiheit hat ihren Preis, nämlich das Risiko, und Sicherheit allein macht nicht glücklich. Manchmal geht etwas schief, furchtbar schief, jemand stürzt, und dann bleibt nur das, was den meisten von uns seit jeher besonders schwerfällt: Man muss sich mit dem Schicksal abfinden.

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