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Langsatzvirtuose. László Krasznahorkai, 1954 in Gyula geboren, lebt in Pilisszentlászló bei Budapest.

© Gyula Czimbal/dpa

László Krasznahorkai und "Die Welt voran": Nur Gott darf Punkte setzen

Zwischen den Wassern des Ganges und dem Gewühl von Schanghai. "Die Welt voran" heißt der neue Erzählungsband des Ungarn László Krasznahorkai, der für sein Lebenswerk gerade mit dem International Man Booker Prize ausgezeichnet wurde.

Von Gregor Dotzauer

Seine Literatur war immer einem alles verschlingenden Wildwuchs ausgesetzt. Er bedrohte die Ordnung von László Krasznahorkais Sätzen, die sich dabei zusahen, wie sie ihrer Wucherungen Herr werden konnten, und er breitete sich aus in einer Naturlandschaft, die den Menschen nicht als Verbündeten, sondern als Feind betrachtete.

Schon in „Herman, der Heger“, einer Erzählung aus dem Jahr 1984, die ein Jahr vor seinem Romandebüt „Satantango“ erschien, ging es um die Wiederurbarmachung eines Einsiedlerwaldes. Die Titelfigur säubert ihn so erfolgreich von Raubwild und Gestrüpp, dass sich das „fast schon erschreckend üppige Dickicht“ binnen zwei Jahren in einen „heiteren und tröstlichen Farbfleck“ verwandelt. Bis Herman Maß und Ziel verliert, am Eingang eine Selbstschussanlage installiert und den Bewohnern der Stadt mit Fangeisen vor der Wohnungstür seine blutige Aufwartung macht.

Krasznahorkai entwarf in „Satantango“ wie in der 1989 veröffentlichten „Melancholie des Widerstands“ eine undurchdringlich gewordene Welt, die sich in ihrem chaotischen Zerfall jeder Kontrolle widersetzt. Beide Bücher lebten von der Erfahrung einer kommunistischen Endzeitgesellschaft, und doch war ihnen eine kosmologische Vision angelegt, die sich durch andere historische und kulturelle Erfahrungen zu gern widerlegt hätte. Es wollte ihr nur nicht gelingen. Denn als László Krasznahorkai Anfang der neunziger Jahre Ungarns dunklen Tann verließ und sich nach China aufmachte, um dort auf eine Lichtung zu stoßen, wurde er nicht fündig. Zwischen aufgeregtem Stillstand und lähmendem Tumult fühlte er sich ebenso verloren.

„Der Gefangene von Urga“, der Roman, den er über seine Reise schrieb, trug als Motto die berühmten Eingangsverse von Dantes „Göttlicher Komödie“: „Nel mezzo del cammin di nostra vita / Mi ritrovai per una selva oscura, / Chè la diritta via era smarrita.“ In der Übersetzung von Carl Streckfuß: „Auf halbem Weg des Menschenlebens fand / ich mich in einen finstern Wald verschlagen, / Weil ich vom graden Weg mich abgewandt.“ Doch der Wald war ihm gefolgt. Er entdeckte ihn in der Wüste Gobi, im subtropischen Perlflussdelta und im Gewühl von Peking: „Ich war unfähig, die Struktur der Stadt vor mir zu erkennen, einfach unfähig, mir die Stadt als Ganzes vorzustellen und so in ihr zu verkehren, dass ich das Ganze im Kopf hatte.“

In gewisser Weise ist er diesem Wald heute, ein Vierteljahrhundert später, noch immer nicht entkommen. Doch so unverbunden sich die Einzelheiten weiterhin vor seinen Augen aneinanderreihen und sich mitunter zu einem Berg von Wahrnehmungstrümmern zusammenschieben, so sehr hat er sich in den Paradoxien vom Ganzen und seinen Teilen, Augenblick und Ewigkeit, Endlichem und Unendlichem eingerichtet. Ja es gibt Augenblicke, in denen sich eine glückliche coincidentia oppositorum andeutet, jene mystische Einheit der Gegensätze, von der die Kulturen zwischen Laotse und Nicolaus Cusanus seit jeher träumen.

Während sich eine schlampig geschriebene, mit Adjektiven vollgestopfte und auf bloße Wirklichkeitseffekte abzielende Literatur dadurch kennzeichnen ließe, dass in ihr zuweilen der Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen ist, könnte man László Krasznahorkais Texten das kunstfertige Gegenteil nachsagen: Man sieht bei ihm zuweilen vor lauter Wald die Bäume nicht.

Die oft absatzlos über Seiten wogende, sich von Komma zu Komma fortspinnende Gestalt seiner Texte macht den Eindruck einer geschlossenen Textdecke, die auch den gutwilligsten Leser abweist. Im Inneren aber herrschen eine mitreißende gedankliche Beweglichkeit, die heitere Gelehrsamkeit eines in sämtlichen Kulturen bewanderten Erzählers und eine inmitten aller Irrungen und Wirrungen manchmal unvermeidliche Komik. Das ist soeben in London mit dem bedeutenden International Man Booker Prize für das Lebenswerk des 61-Jährigen gewürdigt worden.

Gratwanderung zwischen Redundanz und Reduktion

Suche nach dem Moment, in dem die Welt stillsteht. László Krasznahorkai.
Suche nach dem Moment, in dem die Welt stillsteht. László Krasznahorkai.

© EPA/Gyula Czimbal/dpa

„Seiobo auf Erden“ war die globale tour d’horizon überschrieben, in der er zuletzt die Spuren künstlerischer Traditionen von Griechenland bis nach Japan auflas, immer bemüht, eine Schönheit zu beleben, die im Lauf der Jahrhunderte ausgeblichen war. „Die Welt voran“ sammelt nun Erzählungen, die Krasznahorkais Formen, Strategien und Themen erneut entfalten. Nicht von vornherein als Ganzes angelegt, ist der Band in der Abfolge seiner drei Teile doch komponiert.

„Redet“ enthält unter anderem einige kürzere Stücke, die das klaustrophobische Auf-der-Stelle-Treten und die daraus erwachsenden Fluchtimpulse in einer beklemmend abstrakten Gedankenprosa abhandeln. „Erzählt“ fügt ihnen die Farben, Gerüche und Geräusche ferner Schauplätze hinzu: den Mammutkreuzung des Nine Dragon Crossing in Schanghai oder den Marmorstaub eines portugiesischen Bergwerks, während „Verabschiedet sich“ auf einer halben Seite eine Transzendenz beschwört, die man wie immer bei Krasznahorkai als totale Immanenz denken muss.

Man darf dabei nicht jeden Satz für bare Münze nehmen. „Mein Gott“, heißt es etwa im Titeltext über Kontingenz und Notwendigkeit der Geschehnisse vom 9. September 2001, „wie alt meine Sprache ist, in der ich jetzt sprechen könnte, wie heillos alt, wie ich aneinanderreihe, wie ich drehe und wende, wie ich sie voranschleppe und -zerre, wie ich sie quäle und, ein uraltes Wort an das andere reihend, vorankomme, wie nutzlos, wie machtlos, wie plump ist diese Sprache, die ich habe, und wie wundervoll ist sie doch gewesen, wie glänzend, wie geschmeidig und wie treffend und erschütternd, die jetzt ihren Sinn, ihre Kraft, ihre Weite und Genauigkeit sämtlich und restlos verloren hat.“ In der Selbstbezüglichkeit solcher Klagen liegt bereits ein Stück Selbstwiderlegung.

Die Gratwanderung zwischen Redundanz und Reduktion ist das Geschäft jeder Literatur. Anders als die Sprache der Wissenschaft formuliert sie, auch wo sie sich auf Tatsächliches bezieht, nicht einfach wahre oder falsche Aussagen. Was sie darstellt, reichert sie mit Bildern und Vergleichen an. Sie ist kalkulierter Überschuss, dabei aber zugleich auf die Abkürzung des Verstehens aus. Ihre Ökonomie besteht in gewissem Maß also in ihrer Nichtökonomie. So sind die großen Romane des 19. Jahrhunderts, von Balzac, Tolstoi oder dem von Krasznahorkai einst verehrten Dostojewski, wie Roland Barthes in „Die Lust am Text“ erklärt hat, gar nicht darauf angelegt, Wort für Wort gelesen zu werden. „Gerade der Rhythmus zwischen dem, was man liest, und dem, was man nicht liest“, macht für ihn das Glück der Lektüre aus.

Krasznahorkais Redundanz ist von anderer Art. Sie rast und kriecht voran im trügerischen Gleichmaß einer aus den Fugen geratenen Welt, die nie im Lot war, und sie verflüssigt alles Erstarrende, das ihr begegnet. Ein Heer von Wortwiederholungsfiguren, insbesondere Anaphern, bewegt seine Sätze voran. Sie stecken voller Inquit-Formeln, es wird gesagt und gefragt und fortgeführt, dass es ein Fest für streichwütige Lektoren sein müsste. Doch jede Aufforderung zum „Sag’s kürzer“ würde in diesem Idiom nicht unbedingt dazu führen, es besser zu sagen. Von Hauptsatz schwingt es sich zu Hauptsatz. Nur Gott, sagt Krasznahorkai gerne, dürfe Punkte setzen. Der Mensch müsse mit Kommata vorlieb nehmen.

In ihren besten Momenten leistet diese Literatur sogar etwas Mimetisches. Wenn sich der Erzähler von „Ein Tropfen Wasser“ durch das Gedränge im indischen Varanasi bewegt und mit zunehmendem Ekel jene unmerklichen Berührungen spürt, mit denen geschäftstüchtige Menschen auf sich aufmerksam machen wollen, um ihm irgendeinen Unsinn anzudrehen, wird einem im Geschiebe des einen, über 35 Seiten aufgespannten Satzes, auf den eine kurze Coda folgt, selbst ganz seltsam zumute.

Doch was passiert unterwegs nicht alles. Man bestaunt die Verrenkungen eines Sadhus, blickt auf den Ganges, der „verreckte Hunde und tote Menschen, schimmlige Leinenstücke und Coca-Cola-Dosen, zitronengelbe Blütenblätter und Bootskiele mit sich schwemmt“, und begegnet unter Tausenden von Hindus plötzlich einer Art fettleibigem Buddha, der an den Ufern des heiligen Flusses eine Theorie des Wassertropfens und seiner Oberflächenspannung entwickelt, die auch eine Philosophie des Wortes und der Sprache sein könnte. „Ein außerordentlicher Stoff, ein Urelement, das seine innersten Geheimnisse bewahrt“, und das in allen Aggregatszuständen. Wasser „speichert neben seinen zahlreichen Anomalien Informationen, Informationen in endloser Menge, das heißt, Wasser weiß von allem, was auf der Erde geschehen ist und geschieht“.

„Die Zukunft, sie ist das Alte“, das Motto der Schanghai-Erzählung, verhält sich dazu wie eine Paraphrase, ebenso der erste Satz von „Nicht auf Heraklits Weg“: „Die Erinnerung – ist die Kunst des Vergessens.“ Das Immergleiche treibt das ewig Andere hervor: In seinen Erzählungen gewinnt László Krasznahorkai diesem zirkulären Prinzip wieder erstaunliche Variationen ab.

László Krasznahorkai: Die Welt voran. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2015. 409 Seiten, 21,99 €.

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