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Lieber die Klappe halten. Demonstranten gegen das neue Mediengesetz vor dem ungarischen Parlament in Budapest.

© Imago

Ungarn: Freiheit führt zu Atemnot

Autoritarismus, Korruption, Medienknebel – und die Flucht in den politischen Witz. Wie Ministerpräsident Viktor Orbán den Ungarn die Lust an der Unterdrückung zurückgibt.

In Ungarn machen wieder politische Witze die Runde. Obwohl ich gedacht habe, sie seien für immer in Vergessenheit geraten. Ich bin im Sozialismus aufgewachsen, mein damaliges Leben war in politische Witze eingebettet. Das Leben selbst war für uns ein großer Witz. Die Witze machten in der Kádár-Ära die Wirklichkeit erträglich. Die ungarische Variante des Sozialismus war miserabel, aber doch nicht zu miserabel; streng, aber doch nicht sehr streng; unerträglich, aber doch nicht ganz. Kein Wunder also, dass alle Witze erzählten. Selbst Kádár. Wir lebten alle in der großen gemeinsamen Lüge, und die Witze, die wir erzählten, halfen uns, so zu tun, als würden wir von diesen Lügen nicht berührt.

1989 verschwanden die politischen Witze von einem auf den anderenTag. Es gab nichts mehr, wovor man Angst haben musste, deshalb brauchte man auch keine Witze mehr. In einer Demokratie muss man vor nichts Angst haben. Wenn es Rechtssicherheit gibt, wenn die Transparenz der Institutionen gewährleistet ist, wenn es kein doppeldeutiges Reden gibt, wenn die Gesetze berechenbar sind, dann kann man wieder tief durchatmen.

Wir konnten die Freiheit nach 1989 gar nicht genug genießen. Wir ärgerten uns zwar, wenn sich die Dinge nicht so entwickelten, wie wir wollten; wir stritten uns mit denen, die einen anderen Standpunkt vertraten; wir diskutierten miteinander, gerieten auch in Streit, empörten uns auf Schritt und Tritt, versuchten fieberhaft, Lügen zu entlarven. Aber politische Witze erzählten wir keine.

Seit zwei, drei Monaten, seitdem Viktor Orbán Ministerpräsident ist, höre ich sie wieder. Die Ungarn sind im Ausdenken von Witzen genauso erfindungsreich wie in ihrer Verbreitung. Sie richten sich alle gegen Fidesz, die an die Macht gekommene Partei, und ihren Führer, den Ministerpräsidenten. Und gegen jene Mentalität, die nach zwanzig Jahren wieder ihr Haupt erhoben hat.

Diese Mentalität hat auch mit Angst zu tun. Diese Angst ist nicht groß; aber doch groß genug, um das allgemeine Befinden zu verderben. Wenn heutzutage in Ungarn die Rede auf die Politik kommt, senken die Menschen die Stimme. Auch am Telefon wird über immer weniger Dinge gesprochen. Diese wachsende Apathie sollen die immer zahlreicher werdenden politischen Witze lindern. Sie bringen ein bisschen Lebenslust in den Missmut. Woher diese Mutlosigkeit? Woher dieses gespenstische Gefühl, dass man das alles schon einmal erlebt hat? Um Marx zu zitieren: In Ungarn geht wieder das kommunistische Gespenst der patriarchalischen Machtausübung um.

Viktor Orbán erschien 1989 als kämpferischer Liberaldemokrat auf der politischen Bühne. Er hatte Politik an hervorragenden Universitäten studiert, auch in Oxford, wohin er mit der Unterstützung von George Soros gelangt war. Er galt als Hoffnungsträger der ungarischen Liberalen, und eine Weile wurde er dieser Hoffnung auch gerecht. Mit seiner Gabe, Situationen schnell zu erfassen, machte er auf sich aufmerksam. Dank dieser Gabe erkannte er auch bald, dass dem Liberalismus, auf den er bis dahin gesetzt hatte, in Ungarn keine große Zukunft beschieden war.

Die Geschichte Ungarns hat sich so entwickelt, dass das Land nie die Gelegenheit hatte, die Demokratie zu erlernen, geschweige denn, sie in die Praxis umzusetzen. Das Land lebte seit jeher in einer halb feudalen, patriarchalischen Ordnung, im 19. Jahrhundert als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie genauso wie im 20. Jahrhundert unter dem Horthy-Regime während der beiden Weltkriege und dann unter der sowjetischen Besatzung, erst in der Rákosi- und anschließend in der Kádár-Ära.

Viktor Orbán zog daraus seine Lehren: Ein Land, das sich gezwungen sah, die Willkür der herrschenden Obrigkeit zu erdulden, wird das im Grunde seines Herzens nie missen wollen. Es hasst den, der ihm auf den Schultern sitzt; aber wenn ihm die Last plötzlich abgenommen wird, bekommt es Atemnot und vermag mit seiner jäh gewonnenen Freiheit nichts anzufangen. Orbán erfasste die Lage genau; er ahnte schon zu Beginn der neunziger Jahre, was Meinungsumfragen um die Jahrhundertwende bestätigen sollten: der beliebteste ungarische Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts ist János Kádár, gefolgt von Miklós Horthy. Und so wandte er sich von seinen Überzeugungen ab und formte seine Partei, Fidesz, entschlossen und mit starker Hand von einer liberalen zu einer konservativen Volkspartei um.

Fidesz wurde seit Mitte der neunziger Jahre immer mehr zur Partei des ungarischen Konservativismus. Allerdings wusste Orbán damals nur einen Teil der Bevölkerung hinter sich. Zu jener Zeit unterstützten die Kádár-Anhänger noch nicht Fidesz, sondern die Ungarische Sozialistische Partei, die Nachfolgepartei der Kommunisten, die sich von der Kádár’schen Vergangenheit bis zum heutigen Tag nicht befreien konnte und wollte.

Orbán wusste, was man für die Macht braucht: Massen. Dazu war es nötig, dass er auch die andere Hälfte des zerrissenen Ungarn für sich gewann. Jene Menschen, die für die Sozialisten stimmten und – enttäuscht vom Kapitalismus und aus Scheu vor den Problemen, die eine Demokratie mit sich brachte – sich mehrheitlich nach der Kádár-Ära zurücksehnten.

Die ungarische Politik der letzten zehn Jahre handelt davon, wie Fidesz jene Wähler, die bisher vermeintlich links standen, auf die konservative Seite hinüberlockt. Vermeintlich. Denn ein beträchtlicher Teil derer, die sich in Ungarn zur politischen Linken bekennen – oder bekannten –, bejahten und bejahen in Wahrheit die zweifellos lebbare, aber zutiefst antidemokratische Welt des Kádárschen Sozialismus. Die Zahl der ungarischen Liberalen, die die Kádár-Ära von Grund auf ablehnten und ablehnen, ist verschwindend gering. Es ist kein Zufall, dass sie heute überhaupt nicht mehr auf der politischen Bühne vertreten sind; keiner Partei schlug je so viel Hass entgegen wie der Partei der ungarischen Liberalen.

Viktor Orbán empfand es als persönliche Herausforderung, die Macht, die er zwischen 1998 und 2002 vorübergehend hatte, wiederzuerlangen. Danach, 2002 und 2006, hatte er gleich zwei Wahlen verloren. Das fasste er nicht mehr als politische Niederlage auf, wie das in einer Demokratie selbstverständlich gewesen wäre, sondern als Verrat an Ungarn. Er schreckte vor keinem Mittel zurück, um die herrschenden Sozialisten zu diskreditieren, vor Ausgrenzung ebenso wenig wie vor verschlüsseltem Rassismus. „Die Heimat kann nicht in der Opposition sein“, bekundete Orbán und stellte damit das Fundament des Parlamentarismus infrage – eines Parlamentarismus, der noch jung und verletzlich war und in einer funktionierenden Demokratie auch den Schutz der Opposition genossen hätte. „Die Linke ist immer schon über die Nation hergefallen“, sagte er und verwischte so jeden Unterschied zwischen dem blutrünstigsten Stalinismus und dem linken, sozialdemokratischen Denken.

Als „fremdherzig“ bezeichnete er jene, die anderer Meinung waren. Das konnte in einem Land, aus dem während des Krieges über eine halbe Million Juden in den Tod geschickt wurden, nur ein Schwerhöriger missverstehen. „Auch außerhalb Europas gibt es ein Leben“, verkündete er Mitte des Jahrzehnts andeutungsvoll. Allen echten Ungarn empfahl er das Abonnement einer rechtsextremen Zeitung – einer Zeitung, in der jüngst ein Kolumnist die Leser dazu aufrief, die Werke von Péter Nádas, Imre Kertész, Péter Esterházy und György Konrád zu vernichten. Orbán hat den Geist aus der Flasche gelassen – und als 2007 Horden von Neopfeilkreuzlern mit Slogans, die sie von ihm gelernt hatten, die Straßen von Budapest besetzten, da schwieg er.

2010 ist die Saat aufgegangen. Das wurde durch die ungeheure Korruption, die die Herrschaft der Sozialisten mit sich brachte, nur noch beschleunigt. Viktor Orbán gewann Wahlen mit beispiellosen Stimmenmehrheiten.

Er hat die Macht errungen – und auch die Massen gewonnen, sowohl die, die sich nach der Horthy-Ära zurücksehnen, als auch die, die am liebsten wieder die Kádár-Ära hätten. Im Besitz der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit verhält sich der Ministerpräsident so, wie es schon seine Vorgänger getan haben: er setzt das Land mit seiner eigenen Partei gleich, in jener ehrlichen, antidemokratischen Überzeugung, dass auch eine einzige Partei alle Interessen des Staates vertreten könne. Das war die Quintessenz des Kádár’schen Sozialismus. Wie zu Zeiten Kádárs herrscht natürlich auch heute keine Diktatur in Ungarn. Aber es zeichnet sich ein patriarchalisches, halb feudales System ab, in dem persönliche Abhängigkeiten eine größere Rolle spielen als die Abhängigkeit von den Institutionen.

Orbán ist keine Einzelerscheinung auf der Bühne der europäischen Politik: Der Ausbau autoritärer Machtstrukturen war kennzeichnend für die meisten postkommunistischen Länder, von Kroatien und Polen über die Slowakei oder Serbien bis hin zu Albanien oder Rumänien, um von den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gar nicht zu reden. Die meisten von ihnen sind kläglich gescheitert. Viktor Orbán ist noch nicht einmal ein Jahr an der Macht.

Die wirklich große Krise, die man als Ungar heute empfinden kann, besteht darin, dass das institutionelle System, das wir nach 1989 errichtet haben, immer weniger funktioniert. Die Paragraphen der Verfassung sind hohl tönende Worte geworden. Die Parteien legen die Verfassung willkürlich aus. Privates Eigentum hat seine Unantastbarkeit verloren, nachdem es rückwirkend fast beliebig besteuert werden kann. Das Streikrecht wurde verschärft, die Kündigung von Angestellten im öffentlichen Dienst ohne Angabe von Gründen ermöglicht, was Angst und Servilität nur erhöht.

Zuletzt nutzte Fidesz seine parlamentarische Vollmacht und stimmte für ein neues Mediengesetz, das allen, die im Bereich der gedruckten und elektronischen Medien tätig sind, rechtliche und materielle Sanktionen in Aussicht stellt, die zweifellos viele zur Selbstzensur anspornen werden.

Das alles geschieht im Interesse „der Menschen“ – in letzter Zeit steht dieser Ausdruck anstelle von Orbáns früherer Anrede „die Bürger“. Nach Franz Josef, Horthy und Kádár sind wir wieder einmal Zeugen und Leidtragende eines großangelegten Experiments: Wie lässt sich ein Land der Demokraten in ein Land der Untertanen verwandeln?

Es ist also verständlich, dass politische Witze heutzutage wieder Hochkonjunktur haben. Ich bin überzeugt, dass darüber Orbán sich am meisten freut. Es ist der leuchtendste Beweis seines Erfolgs.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma

László F. Földényi

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