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Kultur: Ungarn, Schwerpunkt der Messe, liegt am Rand Europas. Wo ist das Zentrum?

Unter anderen Umständen hätte aus Ungarn glatt noch etwas Großes werden können. Am 15.

Von Gregor Dotzauer

Unter anderen Umständen hätte aus Ungarn glatt noch etwas Großes werden können. Am 15. Mai 1919, berichtet Claudio Magris in seinem "Donau"-Buch, habe Baron Szilassy, ein in der Schweiz akkreditierter ungarischer Diplomat, ein Telegramm an Volkskommissar Béla Kun in Budapest geschickt: "Ich rate Ihnen, sich auf den diesbezüglichen Passus des Entwurfes des Völkerbundes berufend, das Protektorat Amerikas über Ungarn auszurufen. Stop." Bekanntlich hat sich auf diese reizvolle Idee niemand eingelassen. Auch der Plan des Rumänen Aurel Popovici zu Anfang des Jahrhunderts, den halben Balkan in den Vereinigten Staaten von Groß-Österreich zusammenzufassen, hat, wie jeder weiß, nicht genügend Anklang gefunden. Und selbst wenn es Baron Szilassy nicht völlig ernst gewesen sein sollte, so hat er doch für das schon damals unendlich parzellierte Europäische Haus, das heute durch alle Sonntagsreden geistert, pro domo gesprochen: Kinder, unser Topf braucht einen Deckel! Braucht der Topf tatsächlich einen Deckel?

Die Ungarn leben heute, nachdem sie fast ein halbes Jahrhundert erst mehr und dann weniger brutal kommunistisch gedeckelt waren, mit dem wildesten Vielvölkergemisch von Osteuropa: mit Slowaken, Rumänen, Polen, Griechen, Serben, Slowenen, Armeniern und Bulgaren sowie zwei Minderheiten, die nirgends sonst so stark sind: rund 80 000 Juden und bis zu 700 000 Roma. Verglichen mit den Nachbarländern tun sie das sogar verhältnismäßig friedlich und mit nicht mehr chauvinistischen Tönen, als sie von jeher zu vernehmen waren: Zu jedem Einzelnen gibt es einen Kontrapunkt.

"Ich bin ein Ungar", sagt der Schriftsteller Péter Esterházy, Jahrgang 1950, der heute zusammen mit dem ungarischen Staatspräsidenten ¿Arpád Göncz die Frankfurter Buchmesse eröffnet. "Was ist das Ungarische? Es interessiert mich nicht, ich pfeife darauf. Genau wie mich nichts angeht, was das Italienische, das Französische ist. Italo Calvino geht mich an und Blaise Pascal. Miklós Bethlen und György Kúrtag. Zoli Varga (aus dem Turnclub Férenc-Varós bzw. von Hertha BSC) und die Felsen von Oszoly." Und überhaupt: "Das schönste ungarische Wort ist nicht das Wort magyar (Ungar), sondern fülolaj (Ohrentropfen)."

Es ist kein Wunder, dass Esterházy auch mit dem Mitteleuropa-Begriff nichts mehr anfangen kann. Die Konjunktur, die er noch zu Zeiten der West-Ost-Blöcke erlebte, ist ohnehin vorbei, und der Versuch so bedeutender Köpfe wie Claudio Magris (Triest), Milan Kundera (ehedem Prag, jetzt Paris) und György Konrád (Budapest), die ausfransenden Ränder Europas in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, um in den alten Zentren von der Verlagerung des Blicks zu profitieren, hat sich jenseits des intellektuellen Milieus erledigt. Der KosovoKrieg hat die mentale Spaltung Europas in einen mündigen und einen unmündigen, einen sympathischen und einen unsympathischen Teil bis auf weiteres besiegelt. Ungarn hat dabei zwar das Glück, zum guten, hellen, katholischen Europa zu gehören und nicht zum finsteren, balkanischen, muslimischen, doch mit der Idee Mitteleuropa hat das wenig zu tun. Wer Ungarn jetzt als Brückenkopf feiert, lügt sich etwas in die Tasche. Der Eurozentrismus, den Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay "Eurozentrismus wider Willen" (1980) aufs Korn nahm, um mit der linken Dritte-Welt-Euphorie aufzuräumen, lebt unverändert weiter.

Ach, Mitteleuropa! Den Seufzer kennt auch Péter Esterházy: "Auf die Frage, was eine Fußballmannschaft zusammenhält, antwortet ein alberner Witz, einerseits der Alkohol, andererseits der unverbrüchliche Hass gegen den Trainer. Das. Das und nicht mehr war Mitteleuropa." Aber wo liegt Ungarn dann? Was bedeutet es, Budapest als geografischen Nabel Europas zu betrachten? Welche Art von Randlage nimmt dieses Land ein? Und welche Rolle spielt das für seine Literatur? Die Begriffe Zentrum und Peripherie funktionieren nur als Gegensatz. Sie sind aufeinander angewiesen wie Oben und Unten, Fortschritt und Rückschritt oder Zivilisation und Natur. Die Definitionsmacht ist allerdings ungleich verteilt: Es ist eine Elite, die das gesellschaftliche Außerhalb denkt. Es sind ökonomische Produktivkräfte, die über die Rückständigkeit anderer Produktivkräfte urteilen. Es ist die Zivilisation, die Natur als den Traum von der Wildnis braucht. Alles andere ist Psychologie: dass es neben dem Stolz des Zentrums auf die eigene Position ein Schuldbewusstsein geben kann; oder dass neben dem Streben der Peripherie zur Mitte hin Minderwertigkeitsgefühle aufkommen können.

Das Missverständnis, das sich mit dem Bild von Mitte und Rand einstellen kann, besteht darin, dass es sich vor allem um Kategorien des Raumes handelt. Dabei sind Mitte und Rand natürlich auch Kategorien der Zeit. Es gibt, auch wenn man Geschichte nicht als zielgerichteten Prozess denkt, Entwicklungsstufen, die man zwar nicht unbedingt nachvollziehen, aber zumindest bewusst zur Kenntnis nehmen muss. Das fällt der Literatur, die nichts als Bleistift und Papier braucht, selbstverständlich leichter als der Wirtschaft. So hat die Sprachinsel Ungarn, die sich immer nach außen orientiert hat - nach Deutschland, Frankreich oder Russland -, den Sprung in die Moderne bei allen Eigenheiten leichter geschafft als andere osteuropäische Länder: ob Endre Ady einen ungarischen Baudelaire abgegeben hat, Gyula Krúdy einen ungarischen Musil oder Proust oder Péter Esterházy den großen Sprach- und Sinnzertrümmerer, der im sozialistischen Ungarn noch das Etikett "avantgardistisch" trug und heute, ohne seinen Stil grundsätzlich verändert zu haben, das Label Postmoderne. Dass sich eine bäuerliche Literatur wie die von Gyula Illyés überlebt hat, steht außer Frage; und dass etwas mit Ungarn passiert, das sein osteuropäisches Dazwischen auflöst, haben seine klügsten Autoren auch schon erkannt.

László Krasznahorkai, Jahrgang 1954, hat 1990 in einem kleinen Text geschrieben, dass bereits "die letzten Krumen des dichterischen Mörtels unserer europäischen Kultur aus dem Ziegelwerk unserer siegreichen Stadtmauern gerieselt sind in dem gnadenlosen Sturm, der aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert weht, das von einer wirklich ganz neuen für uns erschreckenden Idee beherrscht werden wird, von der der Globalität, wovon freilich wir hier in dieser Präglobalität nur mitbekommen, dass die Idee der Lokalität erlischt und ihren Sinn verliert, da künftig nicht mehr gesagt werden kann, etwas sei hier und hier gewesen, weil die vergangene oder vergehende Realität der Dinge heller strahlt als die Sonne."

Es kann gut sein, dass Budapest von Frankfurt aus immer noch wie ein exotischer Ort aussieht - oder wie die letzte Stadt am Rand des bewohnbaren Europa. Mit der Literatur, die dort und im Rest des Landes geschrieben wird, stimmt diese Perspektive nicht überein. Sie sucht sich ohnehin ihren eigenen Raum. "Sätze bekommen ihren literarischen Status durch den Ort", sagt Péter Esterházy. "In einer guten Zeitung müssen auch gute Sätze sein. Aber der Autor steht nicht hinter jedem Satz, hinter dem Sinn eines Satzes schon, aber nicht hinter der physischen Erscheinung. Miklós Mészöly hat noch die Vision, zu der einzig möglichen Metapher zu kommen. In jedem Detail spürt man diese Gespanntheit."

In der ungarischen Literatur ist sie vielleicht noch öfter anzutreffen als anderswo. Das erfordert höchstens den Luxus eines langsamen Lesens.

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