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Kultur: Ungeheuer normale Menschen Der Film „Das radikal Böse“ zeigt, wie Deutsche

im NS-Staat zu Massenmördern wurden.

Grinsende junge Männer in Badehosen starren eine Hügelsenke hinab, auf der sich ein Spektakel zu ereignen scheint. Ein Tagebucheintrag notiert ohne eine Spur moralischen Empfindens, was an diesem Sommermorgen 1941 vor den Augen des knipsenden Voyeurs und seiner Freizeitkumpel geschieht: Kameraden einer deutschen Polizei- oder SD-Einheit erschießen nach Dienstvorschrift die jüdische Bevölkerung des nahe gelegenen ukrainischen Dorfs.

Zwei Millionen Männer, Frauen und Kinder fielen in Polen, der Ukraine und der Sowjetunion den mörderischen Einsatzgruppen zum Opfer. Soldaten willigten ein, wehrlose Zivilisten niederzuknallen, obwohl ihnen im Fall der Verweigerung keine schwerwiegenden Konsequenzen drohten. Dieser Genozid deutscher Durchschnittsmänner ist bislang nicht im selben Maß ins öffentliche Bewusstsein gedrungen wie die Mordmaschinerie der Lager. Stefan Ruzowitzkys Film „Das radikal Böse“ setzt dem Klischee monströser Nazi-Bestien und der sentimentalen Geschichtserzählung deutscher Opfer à la „Unsere Mütter, unsere Väter“ eine semi- dokumentarische Mischform entgegen, die Hannah Arendts Diktum unterstreicht, das radikal Böse sei das, was man „als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann“.

Der Film untersucht die Bedingungen der Möglichkeit des Mordens. Zahllose hinterlassene Originalfotos zeigen, dass die Verbrechen keine Verschlusssache darstellten. Tagebücher und Briefe, gelesen von Benno Fürmann, Alexander Fehling, Hanno Koffler, Devid Striesow, Simon Schwarz (Letztere auch Darsteller in Stefan Ruzowitzkys Oscar-prämiertem Spielfilm „Die Fälscher“, einer Geschichte mit ähnlicher Thematik), schildern, wie Einzelne mit Entsetzen, Skrupel und Ekel auf die Tötungskommandos reagieren. Und wie diese Regungen im Lauf des Jahres 1941 einer obszönen Routine weichen. Uniformierte Komparsen deuten in stummen Spielszenen an, wie der Leerlauf des Etappendienstes, der Drill, die Rituale der Kumpanei und alkoholische Exzesse das Bewusstsein für die eigene Mitverantwortung kappen. Nicht die Ungeheuer, sondern die normalen Menschen sind die gefährlichen, lautet Primo Levis Fazit, das Stefan Ruzowitzky seinem Film voranstellt.

David Grossman, ein amerikanischer Militärpsychologe und Ex-Offizier, führt aus, wie die Entmenschlichung des „Feindes“ als Bestandteil militärischer Psychotechniken entwickelt wurde, um die zum anthropologischen Erbgut gehörende Tötungshemmung zu reduzieren. Der Historiker Christopher Browning erklärt die enthemmenden Konsequenzen des kollektiven Rassenwahns. Patrick Dubois, ein katholischer Priester und Holocaustforscher, berichtet, wie die Täter unzählige Massengräber zum Verschwinden brachten. Er findet Zeitzeugen wie jene Alten, die in Stefan Ruzowitzkys Film berichten, wie sie als Kinder das Massaker erlebten, dem ein Drittel ihres ukrainischen Dorfes zum Opfer fiel. Die Sozialpsychologen Roy Baumeister und Robert Jay Lifton schildern, wie der soldatische Konformitätsdruck die eigenen Verbrechen verdrängen half.

Nicht zuletzt rekapituliert der Film psychologische Experimente, die den Nachweis archaischer Grausamkeit unter der dünnen Schicht zivilisierter Mitmenschlichkeit versuchen. Auch ohne solch fragwürdige spekulative Menetekel hätte „Das radikal Böse“ die Eindringlichkeit seiner filmischen Mittel nicht eingebüßt. Claudia Lenssen

Im Eiszeit-Kino und Babylon Mitte, ab 30.1. im Ladenkino Friedrichshain und im Kulturhaus Spandau

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